Call for Papers

Angemessenheit (abgesschlossen)

In der Architektur gilt es, zahlreiche konkurrierende Belange in größtmöglichen Einklang zu bringen. Die Aufgabe und Kunst des Architekten/der Architektin besteht darin, diese gegeneinander abzuwägen und dabei das richtige Maß zu finden. Bei der Platzierung des Bauwerks in einem Kontext müssen Standortfaktoren wie Klimazone, Topografie, städtebauliches, architektonisches und sozial-ökonomisches Umfeld Beachtung finden. Bei der Konzeption des Baukörpers sind Fragen der Ökonomie und Funktionsverteilung, der Materialwahl, des konstruktiven Aufwandes und der Bestimmung des ästhetischen und repräsentativen Anspruchs einzubinden. 

Seit der Antike ist der Topos und Begriff der ‚Angemessenheit‘ (lat. decorum) Ausdruck für die Komplexität architektonischen Schaffens. Decorum ist vom lateinischen Verb decere abgeleitet, das doppeldeutig ist. Es bedeutet zugleich ‚schmücken, zieren, kleiden‘ und ‚sich geziemen, gehören, schicklich sein‘. Als zentraler Schlüsselbegriff der Architektur thematisiert das decorum die Angemessenheit von Form und Inhalt und setzt damit letztlich die verschiedenen Kategorien und Aufgabenfelder der Architektur – firmitas, utilitas, venustas – in eine Beziehung zueinander.

Auf die Architektur bezogen und definiert wird der Begriff des decorum zuerst von Vitruv. Im Verlauf der Architekturgeschichte macht das Ideal der Angemessenheit einen stetigen Bedeutungswandel durch. In Renaissance und Barock war das decorum die allgemeine Gestaltungsgrundlage der Architektur. Der rhetorisch geschulte Humanist Leon Battista Alberti griff um 1450 den antiken Begriff in De re aedificatoria wieder auf. Serlio ging im 16. Jahrhundert einen Schritt weiter. Er systematisierte und hierarchisierte die fünf Säulenordnungen und ordnete ihnen inhaltliche und ikonografische Bestimmungen zu. Unter neuen Vorzeichen und mit einer Wendung, die in die Moderne weist, knüpfte man im 19. Jahrhundert an die Idee der sprechenden Architektur an. Die Form, als „zur Erscheinung gewordene Idee“ (Semper) sollte nun in Einklang mit Zweck, Konstruktion und Material entstehen und diese auf angemessene Weise zum Ausdruck bringen. Selbst die funktionale Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts schließt an das antike Ideal des decorum an. So klingen in Henry Van de Veldes Forderung, dass „der Bau und seine äußere Gestalt seinem eigentlichen Zweck und seiner naturgemäßen Form vollkommen angemessen seien“ die rhetorischen Tugenden des inneren und äußeren decorum an.

Heute drängen vor dem Hintergrund des Klimawandels, der Ressourcenknappheit und der Energiekrise neue Belange des Bauens in den Vordergrund, und es ist notwendig, die Frage nach dem decorum neu zu stellen und zu justieren. archimaera lädt daher zu einer Auseinandersetzung mit dem Topos der Angemessenheit in der Architektur aus architektonischer, architekturhistorischer, architekturtheoretischer und denkmalpflegerischer Sicht ein. Sehr erwünscht sind neben wissenschaftlichen Beiträgen auch künstlerische Reflexionen und Projekte, die eine neue Perspektive auf das Thema eröffnen: Fehlt der aktuellen Architektur ein Angemessenheitsdiskurs? Falls ja: wie ließe sich Angemessenheit zeitgemäß definieren? Bieten reduktive Strategien wie das ‚kreative Unterlassen‘ oder die Forderung nach einem Abrissmoratorium Anknüpfungspunkte für einen neuen Angemessenheitsdiskurs mit der Betonung auf sufficiency (Hinlänglichkeit, Zulänglichkeit, Auskömmlichkeit)? Kann das Ideal der Angemessenheit einen Beitrag zur Entwicklung einer neuen Ästhetik der Nachhaltigkeit und des Re-Use leisten? Und inwiefern können wir an die sozialen und ethisch-moralischen Orientierungspunkte anknüpfen, die das Ideal der Angemessenheit beinhaltet, etwa vor dem Hintergrund der Achtung eines angemessenen Verhältnisses zwischen privatem und öffentlichem Leben oder einer neuen Architektur der Gemeinschaft? Welche Richtlinien müssen wir uns – ganz praktisch – auferlegen, um mit vorhandenen Ressourcen angemessen und maßvoll umzugehen? Müssen diese Richtlinien pauschal wirken oder gibt es gut begründete Ausnahmen? Verfolgen wir den Pfad von Hightech-Lösungen oder ist ein zukunftsweisender Lowtech-Gedanke zu entwickeln? Ist es die Architektur oder unser Lebensstil, den wir ändern müssen? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob wir die Architektur bloß in technischen Details anpassen müssen oder ob Architektur unter dem Druck eines „alternativlosen“ Handelns grundsätzlich anders gedacht werden muss.

 

Bitte senden Sie Vorschläge für Beiträge in Form eines Exposés von max. 2.500 Zeichen bzw. einer Arbeitsprobe bis zum 01. März 2023 an archimaera:

angemessenheit(at)archimaera.de

Die Auswahl der Beiträge erfolgt bis zum 18. März 2023. Die ausgewählten Beiträge sind in ausgearbeiteter Form bis zum 11. Juni 2023 einzureichen.

Bitte beachten Sie die formalen Richtlinien von archimaera bei der Gestaltung Ihres Textes. 

Fristen: 

01. März 2023 (Exposés), 
11. Juni 2023 (Beiträge)