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Verlassene Stehplätze

  1. Dipl.-Ing. Karl R. Kegler

Zusammenfassung

Über die Karnevalstage verwandelt sich die Kölner Innenstadt jedes Jahr zum Schauplatz einer großen ephemeren Inszenierung. Für kurze Zeit wird für die Zuschauer der "Schull- und Veedelszöch" am Karnevalssonntag und für den großen Rosenmontagszug eine eigene Infrastruktur aus Tribünen, Drängelgittern und Chemietoiletten errichtet, die den öffentlichen Raum in der Innenstadt neu verteilen, Zugänglichkeiten und Hierarchien definieren. In einer Serie von nächtlichen Fotografien widmet sich dieser Beitrag den "architektonischen" Gerüsten des karnevalistischen Massenspektakels.

Keywords

Köln, Margarethenkloster. Februar 2009.

Es sind nüchterne, funktionale, schmucklose Konstruktionen, Zweckbauten zwischen Baugerüst und Bierzelt. Nach Weiberfastnacht – dem Donnerstag vor Rosenmontag – verwandeln sie große Bereiche der Kölner Innenstadt. Binnen weniger Stunden werden Tribünen an den Wegstrecken der Karnevalsumzüge aufgebaut. Sie teilen die Stadt in Vorder- und Rückseiten. Die Vorderseite ist jene, an der am Sonntag und Montag die Festumzüge vorbeiziehen. Die Rückseite ist ein schmaler Rest Bürgersteig zwischen den Häuserfronten und dem Rücken der mobilen Konstruktionen.

An den Dominikanern (links), Burgmauer (rechts). Februar 2009.

Hausbesitzer und Geschäftsleute bereiten sich auf andere Art auf Karnevalssonntag und Rosenmontag vor. Fenster und Türen werden aus Furcht vor Vandalismus mit Sperrholzplatten verschlossen. Die Fußgänger bewegen sich während der Dauer dieser ephemeren Installationen auf den schmalen Restflächen zwischen den vernagelten Fenstern und den Konstruktionen der Gerüste. Wenn der Höhepunkt da ist und an der Vorderseite der Rosenmontagszug vorbeigerollt, vollzieht sich auf der Rückseite der Tribünen unablässiges Drängeln und Schieben von Kommenden, Gehenden, Feiernden oder Unbeteiligten, die an diesem Hindernisparcours vorbei ihr Ziel zu erreichen suchen. Für wenige Tage dokumentieren die mobilen Architekturen eine Neuverteilung und Neuinterpretation des öffentlichen Raumes. Mit ihr verschieben sich Proportionen und Zugänglichkeiten.

Am Hof. Februar 2009.

Wallraf-Platz. Februar 2009.

An den Dominikanern. Februar 2009.

Man kann viel darüber hören und lesen, dass der Kölner Karneval auf uralte Traditionen zurückgeht, welche einmal obrigkeitliche Herrschaftsverhältnisse in Frage stellten oder umkehrten. Rosenmontags ist heute davon wenig zu spüren. Am Karnevalszug nehmen mit minimalen Variationen die immer gleichen Traditionsvereine teil. Auf der Rathaustribüne sitzen Politiker und Honoratioren der Stadt sowie prominente Gäste, sofern sie nicht gleich selbst auf den sogenannten Prunkwagen des Umzugs mitfahren. Beide, Zuschauer und organisierte Karnevalisten, nutzen die Gelegenheit zu einer Selbstdarstellung im öffentlichen Raum. Selbst die Abfolge der Kostümgruppen, die von den Aktiven der großen Karnevalsgesellschaften gestellt werden, ist in jedem Jahr bis auf minimale Veränderungen gleich. In autoritären Zeiten mit einem schneidigen Militär mag die fehlende Disziplin der historisch uniformierten Karnevalisten provozierend gewirkt haben, heute aber erscheinen viele Rituale des Kölner Karnevals wie Überbleibsel aus einem bürgerlichen Biedermeier, das in seinem Festumzug Vereine und Gruppen, Stände und Stadtteile in immer gleicher Form inszeniert.

Unter Fettenhennen. Februar 2009.

Eine – ganz banale –Stratigraphie des Sozialen wird am Zugweg räumlich und körperlich deutlich. Tribünenbesucher, die für einen überdachten Stehplatz ab 65 Euro bezahlen, sichern sich einen privilegierten Ausblick in den öffentlichen Raum. Für das "Volk" bleiben die Zwischenräume und Restflächen zwischen den reservierten Aussichtsständen. Diese Besitznahme des Straßenraumes wird vor Vorbeimarsch des Umzuges mitunter noch durch die Beschallung der Aussichtsstände mit Stimmungsmusik unterstrichen, der keiner entgeht, der sich in der Nähe der Boxen befindet.

An den Dominikanern. Februar 2009.

Burgmauer, Ecke Auf dem Berlich. Februar 2009.

Hier soll keiner moralinsauren Ablehnung des Karnevals das Wort geredet werden, welche den Traditionen Kölns verständnislos gegenübersteht und darauf pocht, dass die "tollen Tage" in anderen Regionen "ein ganz normaler Arbeitstag" sind. Karnevalstage sind Feiertage. Viele Kölner, Rheinländer oder Auswärtige freuen sich das ganze Jahr auf diese Zeit und reagieren zu Recht allergisch auf die Belehrungen von karnevalsresistenten Besserwissern. Aber man muss die Augen nicht davor verschließen, dass die Inszenierung des Festes im Stadtraum ein organisiertes Massenspektakel darstellt, das auf einem kruden, pragmatischen Niveau abläuft. An der Herrichtung des Zugweges ist dies leider deutlich ablesbar.

Glockengasse "Schweizer Ladenstadt". Februar 2009

Eine festliche, fröhliche oder auch nur originelle Inszenierung ist an den wenigsten Stellen zu spüren. Die Tribünenkonstruktionen sind in der Regel spartanisch und ohne jeden Dekor. Rostige Drängelgitter in den Warnfarben rot und weiß (die nur zufällig auch die Stadtfarben Kölns sind) säumen den Zugweg. Einen leuchtend grünen Akzent bilden Batterien von Chemieklos, die an strategischen Stellen an Dom und Bahnhof massiert sind. Zu den ganz wenigen Elementen, die bewusst als Dekoration des Weges aufgestellt werden, gehören große bunte, zweidimensionale Figuren auf einem rotweißen Sockel, welche die Kölner Karnevalsgesellschaften darstellen. Sie stammen noch aus den späten 1970er Jahren. Wenn zwischen Samstagnacht und Dienstagmorgen der Zugweg für den Autoverkehr gesperrt wird, bieten sich zwischen diesen Aufbauten wenig schmeichelhafte Ausblicke auf die verlassene Kölner City, die ohne die Kunden- und Verkehrsströme künstlich, kalt und überhaupt nicht einladend wirkt.

Trankgasse. Februar 2009.

Unter Fettenhennen. Februar 2009.

Trankgasse / Bahnhofsvorplatz. Februar 2009.

Domplatte, Dom Westportal. Februar 2009.

Die Kälte und Unwirtlichkeit der Funktionselemente, die temporär zu den übrigen Teilen der Stadtmöblierung hinzukommen, tritt in den nächtlichen Fotografien besonders hervor. Es fehlt jenes Element, das das eindrucksvollste Erlebnis des Karnevalsumzugs ausmacht: die dichte, ansteigende Menge bunt kostümierter, sich bewegender und interagierender Menschen. Ihre Abwesenheit legt das Knochengerüst einer ephemeren Inszenierung bloß, deren Teile sich hart im Raum stoßen.

Glockengasse (links), Am Hof (rechts). Februar 2009.

Glockengasse (links), Burgmauer (rechts). Februar 2009.

Volltext

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erstellt von Karl R. Kegler zuletzt verändert: 19.11.2019 08:58
Mitwirkende: Kegler, Karl R.
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