Benutzerspezifische Werkzeuge
Artikelaktionen

No section

Bauen für die Ewigkeit

Das Ensemble "Zentraler Platz" von Chemnitz / Karl-Marx-Stadt

  1. M.A. Toni Jost Institut für Europäische Geschichte

Zusammenfassung

Der Anspruch an das Bauen in der DDR bewegte sich oftmals außerhalb des Koordinatensystems von Funktion und Repräsentation. Besonders in den Stadtzentren ging es darum, Gebäude und Räume zu schaffen, die die zukünftige kommunistische Gesellschaft vorwegnehmen und ihr so zum Durchbruch verhelfen sollten. Dieser metaphysisch angehauchte Auftrag an das Gebaute löste es aus Zeit und Raum heraus und hob die physische Vergänglichkeit der Steine auf. Das Beispiel des Chemnitzer Stadtzentrums illustriert diesen Zusammenhang und verdeutlicht die nur unter Schwierigkeiten mögliche ideelle Umcodierung von Architektur und Städtebau der DDR nach der Wiedervereinigung.

Keywords

 

Und wir sahen in die Zeit hinein,
und alle Zeiten schienen eins zu sein.

Johannes R. Becher

1. EINLEITUNG

Der symbolische Anspruch von Architektur und Städtebau in der DDR reichte weit über die reale Lebensdauer der errichteten Bauten hinaus. Die sozialistische Ideologie wies Architektur und Stadtplanung einen gesellschaftlichen Auftrag zu. Um von den Verheißungen des kommunistischen Himmelreichs zu künden, musste die Architektur des sozialistischen Staates eine immergültige Antwort auf die Fragen an die Zukunft und die Vergangenheit finden. Dieser Anspruch "erhob" die Bauten der DDR weit über die reale Wirklichkeit und ihre Geschichte: Sie besaßen den Anspruch auf Ewigkeit.

Diese These soll anhand des sozialistischen Chemnitzer bzw. Karl-Marx-Städter "Zentralen Platzes" nachvollzogen werden. Auf den ersten Blick ist er also solcher nicht zu erkennen, denn der Demonstrationsplatz wurde schon in der Planungsphase zugunsten des Stadthallenparks aufgegeben. Der Park bildet aber den Mittelpunkt eines geschlossenen Ensembles. Es umfasst die Gebäude des Rates des Bezirkes und der SED-Bezirksleitung mit dem bekannten vorgelagertem Karl-Marx-Monument, das Haus der Industrieverwaltungen, die Hauptpost und die Stadthalle mit Hotelhochhaus und Parkanlage. Das Ensemble war Resultat eines langwierigen Planungsprozesses, der unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg begann, aber erst in den späten siebziger Jahren unvollendet zum Abschluss kam und idealtypisch die ideologischen Prämissen der Architektur und des Städtebaus in der DDR verkörpert.

Abb. 1: Der "Zentrale Platz" 1991: (1) Innere Klosterstraße, (2) Roter Turm, (3) Hauptpost, (4) Stadthalle mit Hotelhochhaus und Stadthallenpark, (5) Haus der Industrieverwaltungen, (6) Rat des Bezirkes, SED-Bezirksleitung ("Parteifalte") und Karl-Marx-Monument, (7) Straße der Nationen, (8) Demonstrationsstraße Brückenstraße, (9) Mühlenstraße, Fritz-Heckert-Geburtshaus.

2. Zur Logik von Architektur un Städtebau in der DDR: Perfektion als grundlegende Kategorie

Dem sozialistischen Städtebau lag die Annahme Lenins zu Grunde, dass sich die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft in ihren Bauten widerspiegeln. Im Umkehrschluss wirkt dieser Widerspiegelungstheorie entsprechend die gebaute Wirklichkeit einer Gesellschaft auf das Bewusstsein ihrer Bewohner und Betrachter zurück und macht die hinter ihr wirkende Idee erlebbar. [1] In Abgrenzung zum organisatorischen Chaos des Kapitalismus, das ein ebensolches städtebauliches Chaos hervorgebracht habe, versprach die SED mit der Gründung der DDR den Beginn einer neuen Epoche, deren Städte im Sinne der marxistisch-leninistischen Geschichtsteleologie planmäßig umgebaut werden sollten. Fortschritt wurde zur gesetzmäßigen Notwendigkeit erhoben. Die Stadt als "Medium des Sozialen" [2] erhielt eine bedeutende repräsentative Funktion. Sie bildete nicht nur die bestehenden Machtverhältnisse des "Arbeiter- und Bauernstaates" ab, sondern sollte darüber hinaus seine Daseinsberechtigung legitimieren, indem sie den Fortschritt, die Verheißungen des Kommunismus in seiner "revolutionären Entwicklung" - so der Grundgedanke des Sozialistischen Realismus - bildlich vorwegnahm. Es ging nicht nur um die Widerspiegelung, sondern um die Produktion einer politischen und sozialen Realität. Die Annahme einer Einheit von Städtebau und Lebensweise sowie die Indienstnahme dieser Einheit für die Verwirklichung der Gesellschaftsidee des Sozialismus waren die Grundgedanken des DDR-Städtebaus. [3] Städtebau besaß in der Vorstellungswelt der Verantwortlichen die klare, auf die Zukunft bezogene Zweckbestimmung, als Waffe im Klassenkampf zur Bewusstseinsbildung der Menschen beizutragen. Die "geistige Vorbereitung auf die Zukunft" [4] erschien plan- und beherrschbar, wenn nur die Stadt "richtig" gebaut würde: "[Die Stadt] dien[t] wesentlich der aktiven Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens entsprechend den Aufgaben der jeweiligen Ordnung und den Vorstellungen ihrer Träger von einem glücklichen Leben." [5]

Politiker und Architekten standen nun vor dem Problem, ein Bildprogramm dieses "glücklichen Lebens" für eine erst am Beginn ihrer Entwicklung stehende Gesellschaft zu erstellen. Das, was einmal errichtet war, sollte später einmal "noch der im Kommunismus lebenden Gesellschaft dienen". [6] Deshalb durfte es nicht sein, dass sich die Bedürfnisse der Bewohner auf dem Weg in die kommunistische Gesellschaft einmal verändern könnten. Es gehörte deshalb zum Standardrepertoire eines jeden Theoretikers, Zukunftsschau einzufordern. Hermann Henselmann als einer der führenden Architekten der DDR ermahnte seine Kollegen: "Wir müssen lernen, die Stadt von morgen mit den Augen von morgen zu betrachten." [7] "Morgen - das ist genau gesprochen: in der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft." [8] Da utopische Vorausschau verpönt, Prognose aber nicht im Stande war, auch nur annähernd das Leben in dieser neuen Epoche zu beschreiben, und die Soziologie kaum Wissen besaß, wie die Wechselwirkungen zwischen Städtebau und Evolution der Gesellschaft im Prozess des dialektischen Materialismus tatsächlich verliefen und wie man sie steuern konnte, führte der Anspruch, die Architektur einer kommunistischen Gesellschaft vorwegzunehmen, letztlich zur Idealisierung des Zeitgeistes und zu seiner Fortschreibung in die Ewigkeit.

"Das Determinismus-Dogma erzeugt das Unfehlbarkeitsdogma", [9] schrieb der Chemiker und Volkskammerabgeordnete Robert Havemann, der Mitte der sechziger Jahre zu einem scharfen Kritiker der SED mutierte. Ãœbertragen auf den Städtebau bedeutete dies: Wenn man dem höheren Bewusstsein der Partei vertraute und von einem teleologischen Geschichtsbild ausging, dann mussten die gegenwärtigen "Berechnungen" richtig sein und es genügte ihre Fortschreibung in die Zukunft [10] - freilich unter völliger Missachtung der marxistischen Kategorien Dialektik und Möglichkeit. Es konnte dann nur eine denkbare Gesellschaftsentwicklung geben, die in einer bestimmten Stadtgestalt ihre Entsprechung finden musste. Der eingeschlagene Weg musste mit Notwendigkeit zum ausgegebenen Ziel führen: "Was der VIII. Parteitag beschlossen hat, wird sein" [11], lautete die pointierte Devise, die das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED in den siebziger Jahren formulierte und die diese Gedankenwelt exemplarisch widerspiegelt. Die Zukunft, das vielbeschworene "Morgen", meinte eigentlich eine idealisierte und geradlinig fortgeschriebene Gegenwart, die nur vorwegnahm, wie die Gesellschaft den Erkenntnissen, Erfahrungen oder Wünschen der SED gemäß sein müsste und sollte. In Architektur und Städtebau spiegelten sich diese Einstellung in der formalen Sprache der Entwürfe. Gefangen in der Ästhetik ihrer Zeit sind die entstandenen Ensembles aus heutiger Sicht zumeist banal, wenn nicht sogar wie die neohistorischen Bauten der Nationalen Traditionen  [12] reaktionär. Aber sie legen Zeugnis ab, wie man sich zu bestimmten Zeiten den Weg zum Kommunismus und das Leben in ihm mit perfekten Menschen und den allseits befriedigten Bedürfnissen vorstellte.

Abb. 2: Broschüre Wir wissen was morgen geschieht, herausgegeben vom Zentralen Wahlausschuß der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands zum Fünften Parteitag der SED 1958.

3. Etappen der Planungsgeschichte

Die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Vision waren in Chemnitz wie in vielen anderen kriegszerstörten Großstädten des Landes "ideal". Das Stadtzentrum war auf 6 km2 durch den Bombenangriff im März 1945 fast komplett zerstört worden, der Zugriff auf den Boden und die Reste der alten Stadt war durch das Aufbaugesetz von 1950 gesichert, der eigenständige Wiederaufbau durch die Unterstellung der Stadtverwaltung unter Staat und Partei gestoppt und der subjektive Faktor der Architekten mit dem Erlass der 16 Grundsätze des Städtebaus und den Formalismuskampagnen von 1948/49 und 1951 eingehegt. [13] Nachdem mehrere Wettbewerbe zum Wiederaufbau des Stadtzentrums ergebnislos verliefen, geriet Chemnitz mit der Umbenennung in Karl-Marx-Stadt 1953 zu einem Zeitpunkt verstärkt in das Blickfeld der Politik, als im Gefolge des Stalinismus die historisierende Architektursprache der Nationalen Traditionen Hochkonjunktur hatte. Die Wettbewerber überarbeiteten ihre Pläne und antworteten 1956 auf den nun geforderten politischen Charakter der Stadt mit deren Grundelementen 'Zentraler Platz', 'Magistrale' und 'Kulturhochhaus'. Damit schufen sie ein neues Bedeutungssystem, das sich zunächst noch mit der lokalen Bautradition verband. So sollten sich die neuen Gebäude in ihrer Gestakt der noch vorhanden Vorkriegsbebauung anpassen, was aber weniger Vorliebe für das Lokale als Ausdruck der Sehnsucht nach Ewigkeit war. Nach sowjetischem Vorbild erkannte die politischen Führung in der frühen DDR in klassischen Formen die Widerspiegelung einer vollkommenen und ganzheitlichen Ordnung, die sich als "pädagogisches Instrument" [14] zur Bewusstseinsbildung der Bevölkerung einsetzen ließ. Auch städtebaulich waren diese Elemente noch dem Wiederaufbau der alten Marktplätze untergeordnet und außerhalb des kleinen Innenstadtrings angeordnet. Dennoch bildeten sie eine untrennbare Einheit aus Wohnen, Einkaufen, künstlerischem Erlebnis und politischer Demonstration und schufen damit ein neues, harmonisches Bild der Stadt, das das alte Image des "Sächsischen Manchesters" abgelegt und das Verlusterfahrung des Krieges hinter sich gelassen hatte. Nicht mehr der Ruß der Fabrikanlagen, sondern der Glanz der neuen Gebäude sollte das Bild von Karl-Marx-Stadt bestimmen. Und das neue Zentrum der sozialistischen Stadt sollte nicht länger Ausdruck einer "Verschwörung" des Kapitals gegen die Menschen sein, sondern als Festwiese für die nach der Arbeit freudig und optimistisch hineinströmenden Massen dienen, auf der sie ihren Aufbauwillen zelebrieren und die Liebe zur Partei bekräftigen konnten. Nichts erinnerte in den Plänen mehr an die schmerzvolle Vergangenheit und selbst die trübe Gegenwart war bereits aus der Imagination des Realen getilgt. Die Planung inszenierte eine widerspruchsfreie Harmonie als Sinnstiftung in Zeiten innerer und äußerer politischer Instabilität, kaum bewältigter Kriegstraumata und alltäglicher Versorgungsprobleme - die Pläne entwarfen die idyllische Staffage eines Operettenkommunismus. Die wenigen tatsächlich errichteten Straßenzüge 'Reitbahnstraße' (1950-1956) und 'Innere Klosterstraße' (1953-1956) zeugen in ihrer klassizistischen und barocken Anlage von diesem Anspruch.

Abb. 3. Wiederaufbauplan 1956.

Abb. 4, 5. Reitbahnstraße, Innere Klosterstraße, Aufnahme von 2010.

Der Städtebautheoretiker Herbert Riecke erläuterte dieses Wunschbild der sozialistischen Stadt in der für die Zeit typischen pathetischen Sprache:

"Die edlen Wesenszüge des kommunistischen Menschen, die Lebenswärme, die Freude und Weltaufgeschlossenheit, die Liebe zum Schönen und die Kultiviertheit des Menschen der kommunistischen Epoche müssen in der Architektur ihren Ausdruck finden. [...] Die hohe Aufgabe der Architektur ist es, durch ihre Schöpfungen den Alltag der Werktätigen zu veredeln und die kommunistische Erziehung für die höchsten Ideale der Menschheit mit zu bewirken. Die sozialistische Kunst eilt der Gegenwart voraus. Sie zeigt mit ihren Mitteln die Entwicklungsperspektiven der von Ausbeutung befreiten Menschheit, sie ist bis ins letzte parteilich." [15]

Tatsächlich ging es Architektur und Städtebau der frühen DDR vornehmlich um den Bau einer Bühnenkulisse mit stalinistisch-klassizistischer Fassade. Das Streben nach Harmonie schloss die Möglichkeit urbaner und gesellschaftlicher Veränderungen aus. Gesucht und vermeintlich gefunden wurde eine Totallösung, die Ausdruck des antizipierten zeitlosen Endzustandes nach Abschluss aller Klassenkämpfe und der Ewigkeit der neuen Gesellschaftsordnung sein sollte. Gerd de Bruyn hat derartige Kulissenarchitekturen mit Bezug auf Claude-Nicolas Ledoux als Ausdruck eines utopischen Denkens charakterisiert, in dem "alle gesellschaftliche Praxis in der Utopie einer befriedeten Welt mumifiziert ist." [16]

Dieses aus der Frühphase der DDR stammende Wunschbild eines sozialistisch-realistischen "Gesamtkunstwerkes" Karl-Marx-Stadt wurde in den Giftschrank verbannt, als die Industrielle Bauweise Ende der fünfziger Jahre den Sieg auch in den Stadtzentren davontrug und die bisherige Stadtplanung plötzlich als "kleinlich" [17] galt: Die "Hauptaufgabe, die gesellschaftliche Idee von 'Karl-Marx-Stadt' auch städtebaulich-künstlerisch zum Ausdruck zu bringen, war mit den bisherigen Konzeptionen nicht zu verwirklichen." [18] Mit dem Führungswechsel in der UdSSR von Stalin zu Chruschtschow hatten sich nicht nur die Ansichten über die Bauweise und Stil im Sozialismus gewandelt, auch die Ideologie blieb nicht verschont. Die Ökonomie und nicht die Kunst sollte das neue Fundament des Sozialismus bilden und die Signale standen klar auf Fortschritt: Der Sputnik eröffnete die Vision eines unaufhaltsamen Höhenfluges auf Basis technischer Wunderwerke, die Kybernetik ließ die Gesellschaft als berechenbares System erscheinen: Der Weg zur Sozialistischen Lebensweise schien plötzlich über Zahlen prognostizierbar. Hinfort mit der Tradition! Auf zur sozialistischen Menschengemeinschaft! Grundlage dieser Zukunftsvision war die Vorstellung von einem Menschen, der nicht länger nur als Statist in der großen Aufführung des Sozialismus auftreten, sondern ein handelndes Subjekt sein sollte, das in großzügigen Stadträumen kommuniziert und den Fortschritt tatsächlich lebt. Auch individuelles Vergnügen war nun eine gute Sache und selbst Sexualität durfte ein wenig freier ausgelebt werden, keinesfalls aber war der sozialistische Mensch egoistisch, prestigesüchtig und gleichgültig gegenüber der Gemeinschaft. [19] Das Problem war allerdings: Dieser Mensch - selbstlos, aufopferungsvoll, geistig und körperlich nach Höherem strebend - existierte so nicht, sondern war als idealisiertes Hirngespinst der Parteiführung ein weiterer Zeitgeist-Aufguss auf den sozialistischen Heroenkult.

So sehr man sich in den sechziger Jahren in derartigen Idealbildern erging, so schnell stieß man in der Stadtplanung an ihre Grenzen, denn weder konnte wissenschaftlich begründet werden, wie Stadtplanung den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess tatsächlich beeinflusst, noch existierte ein dafür abgestimmtes Bildprogramm. Zu keiner Zeit konnte der Verdacht ausgeräumt werden, dass die alten ideologischen Formeln willkürlich auf die neue sachliche Ästhetik der industriellen Bauweise übertragen worden waren. Noch immer ging es für den Städtebau darum, Optimismus auszustrahlen, "von höchster Aussagekraft zu sein" und "dem politischen Willen der Arbeiterklasse" [20] zu entsprechen. Infolge der beschriebenen konzeptionellen Wandlungen trat im Diskurs jedoch neben der politischen die soziale Funktion von Stadtplanung stärker in den Vordergrund. Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung, zur Kommunikation und zur Zerstreuung sollten die Errungenschaften des Sozialismus, die auf den Häuserfassaden in Wandbildern und Parolen bisher nur anschaulich gegenwärtig waren, nun auch im Alltag erlebbar machen. Die Zentrumsplanung der sechziger Jahre bestimmten Grünflächen, Freizeiteinrichtungen und Bauten für die Wissenschaft.

Die veränderten urbanistischen Anschauungen und politischer Druck führten 1958 zur völligen Umarbeitung des Plans durch Georg Funk [21] und 1961 zu einem neuen Wettbewerb für die Gestaltung des "Zentralen Platzes". Die Leitgedanken "Großzügigkeit" und "Weiträumigkeit" - von der Architekturtheorie der DDR als die Wesensmerkmale der Sozialistischen Stadt überhöht - setzten dem behutsamen Umgang mit den Resten des alten Chemnitz nun ein Ende. Die neuen Stadtelemente sollten sich nicht länger dem historischen Erbe unterordnen, sondern als Zeichen des Fortschritts die Stadt dominieren. Das führte dazu, dass der dafür zu kleine Altstadtring aufgebrochen und nach Norden ausgedehnt wurde, um Platz zu schaffen für weitläufige Fußgängerbereiche, neue Bibliothek, Schauspielhaus, Kino, Varieté-Theater, Sportkomplex sowie für Hotels, Bars und Wohnblöcke. Nicht länger an dessen Rand, sondern als Mittelpunkt des Zentrums war der "Zentrale Platz" als Demonstrationsfläche geplant. Symbiotisch sollte so das "Alltagserlebniskonzept" mit den politischen Forderungen an die Stadtplanung verbunden werden. Der großzügige "neue Geist" [22] des Sozialismus fand in Karl-Marx-Stadt allerdings schließlich doch keine Verwirklichung. Viele Ideen Funks und des Wettbewerbs fielen dem Rotstift zum Opfer. Sah der Siegerentwurf von 1961 noch 18 neu zu errichtende Gebäude bzw. Gebäudegruppen für den "Zentralen Platz" und sein direktes Umfeld vor, reduzierte sich ihre Zahl im weiteren Verlauf der Planung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auf ein geschlossenes Ensemble von sechs Bauten, das sich gegenüber den kümmerlichen Resten des alten Chemnitz schroff abgrenzte.

Abb. 6, 7. Grundkonzeption des Stadtzentrums 1958 von Georg Funk, Modell des Siegerentwurfs des Wettbewerbs zur Gestaltung des Zentralen Platzes 1961 vom Kollektiv Peter Andrä.

In der Planung blieben bis Anfang der siebziger Jahre nur die breiten Verkehrs- und Demonstrationsmagistralen, der riesige Aufmarschplatz sowie die angrenzenden Solitärbauten, die die Platzwände definieren. Als Mittelpunkt der Stadt fand das neue Karl-Marx-Denkmal seinen Platz. Politische Räume, Bauten und Bildprogramme beherrschten damit das Zentrum der sozialistischen Industriestadt. In der städtebaulichen Theorie kam diesen Elementen zwar längst keine dominante Bedeutung mehr zu, für die Neuplanung von Karl-Marx-Stadt fanden sie aber nichtsdestotrotz Berücksichtigung, da in den fünfziger Jahren noch keines dieser Elemente gebaut worden war. Dies wurde nun nachgeholt. Den ursprünglich vorgesehenen privaten Erlebnismöglichkeiten im Zentrum waren damit enge Grenzen gesetzt. Der öffentliche Bereich blieb stark politisiert und bestimmt von ideologischen Klischees. Möglichkeiten zur privaten Freizeitgestaltung wurden in der Stadthalle konzentriert und hinter geschlossenen Türen abgeschirmt. Erst in der letzten Planungsphase gab man den zentralen Demonstrationsplatz zugunsten des Stadthallenparks auf, um den "feierliche[n] Charakter" [23] des Marx-Monumentes besser in Szene setzen zu können. Obwohl so die Alltagsfunktion doch noch ihren Niederschlag in der Planung fand, stand selbst bei dieser Entscheidung die politische Aussage des Ensembles im Vordergrund. Der Park blieb allerdings das einzige Zugeständnis an die Bevölkerung. Die Realisierung der Gebäude für die private Freizeitgestaltung - Kino, Schauspielhaus oder Sportkomplex - wurde hingegen immer wieder aufgeschoben und schließlich ganz aufgegeben. Dennoch galt Karl-Marx-Stadt als "sozialistische Metropole [...], in der die Zukunft schon begonnen hat." [24]

Dies war mehr als nur eine dahingesagte Phrase. Das neue sozialistische Zentrum inszenierte eine Deutung der Geschichte, die aus Sicht der SED über jeden Zweifel erhaben war. Da die sachlichen Architekturformen dies allein nicht mehr leisten konnten, übernahmen Werke der bildenden Kunst und vorhandene Altbauten diese Aufgabe. Auf den Demonstrationsmagistralen Brückenstraße und Mühlenstraße führten sie dem Besucher konsequent das ideale Selbst- und Geschichtsbild der Partei vor Augen. Stadt und Individuum wurden als Teile einer revolutionären Geschichte gedeutet, die durch Klassenkämpfe bestimmt war. Ausdruck fand diese Deutung etwa im Fassadenrelief "Kampf und Sieg der revolutionären deutschen Arbeiterklasse" von Johann Belz, in der freistehenden Plastik "Lobgedichte" [25] von Joachim Jastram, Eberhard Roßdeutscher und Martin Wetzel oder im extra für eine Straßenverbreiterung versetzten Geburtshaus des Chemnitzer KPD-Führers Fritz Heckert. Selbst das Wahrzeichen des alten Chemnitz, der Rote Turm, war nun nicht länger nur als Teil der alten Stadtbefestigung, sondern als das Gefängnis von August Bebel historisch bedeutsam. [26] Das Andenken an die Biographien bedeutender Sozialisten oder Kommunisten und Werke der offiziellen Staatskunst wurden in dieser Inszenierung im Rahmen einer teleologischen Geschichtsdeutung auf das engste verknüpft. Eine Ausnahme von diesem im Stadtzentrum verwirklichten Bildprogramm bildet allein die 'Straße der Nationen', die Anfang der sechziger Jahre mit Wohnungen, Geschäften, Wasserspielen und Blumenbeeten tatsächlich im Sinne des neueren "Alltagserlebniskonzeptes" errichtet wurde.

Abb. 8, 9. Stadthalle mit Hotelhochhaus, Straße der Nationen, Aufnahme von 2010.

Abb. 10, 11. Fassadenrelief "Kampf und Sieg der revolutionären deutschen Arbeiterklasse", Ensemble "Lobgedichte" (Teilansicht), Aufnahme von 2010.

Abb. 12, 13. Fritz-Heckert-Geburtshaus, Roter Turm, Aufnahme von 2010.

Der bronzene Marxkopf - der Bildhauer Lew Kerbel verzichtete bewusst auf einen Körper, um die dem Kopf entsprungene Idee zu symbolisieren [27] - ist das zentrale Element des Bildprogramms. Einem Siegesmal des Systems gleich thront Marx sieben Meter über dem Platz; väterlich-mahnend, ja geradezu zornig formte Kerbel Marx' Gesichtszüge. Geht von der kolossalen Skulptur allein schon eine autoritäre Wirkung aus, steigerte sie ihre Inszenierung ins Sakrale. Marx wurde in "seiner" Stadt - die er weder besuchte, noch in seinen Werken erwähnte - wie ein "Religionsstifter" [28] in Szene gesetzt. Kerbels Monument löst Marx durch die zeichenhafte Isolation seines übergroßen Hauptes aus Zeit und Raum heraus; es verabsolutiert und verewigt eine Idee. Die statische Inszenierung erzeugt eine Starre, die genau dem überhistorischen Anspruch des DDR-Städtebaus entspricht. Hinter dem Monumentalkopf befand sich im Gebäude des Rates des Bezirkes zudem eine Gedenkstätte für Karl Marx, die mit ihrer Sammlung von Erinnerungsstücken (insbesondere alter Ausgaben des "Kapitals") an eine Reliquiensammlung erinnerte. Ein unmittelbarer Bezug bestand außerdem zwischen der Marxplastik und der am Haus der Staatsorgane angebrachten Schrifttafel von Volker Baier und Heinz Schumann, die weithin sichtbar Marx' Aufruf "Proletarier aller Länder vereinigt euch!" verbreitet. Die Einheit von Monument, Schrifttafel und Bürohaus stellte eine unmittelbare Verbindung zwischen den Staatsorganen und den ideologischen Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft her. Eine weitere Bedeutungsdimension kam dadurch hinzu, dass bei öffentlichen Veranstaltungen direkt vor dem Denkmal die Tribünen für SED-Funktionäre aufgebaut wurden. Auf diese Weise konnten sie sich auf der Tribüne als legitime Gralshüter der Marxschen Ideen stilisieren, während die in Demonstrationszügen vorbeiziehenden bzw. stehenden Massen die Größe und Wahrheit der sozialistischen Idee "erleben" und ihrem geistigen Urvater ein Zeichen der Dankbarkeit und Selbstgewissheit vorführen konnten. Nutzung und Bildprogramm der Platzanlage sollten auf diese Weise ermöglichen, den gemeinsamen Willen immer wieder ritualisiert zu beschwören, sollten zur Bewusstseinsbildung der Bevölkerung beitragen und eine ideologisch determinierte Zukunftserwartung verdeutlichen.

Der Anspruch der marxistisch-leninistischen Lehre erschöpfte sich schließlich nicht nur darin, den Sozialismus auf dem Staatsgebiet der DDR zu verwirklichen, sondern stellte eine Zukunft in Aussicht, in der sich die Gesellschaftsentwicklung hin zum Kommunismus mit Notwendigkeit einmal weltweit vollzogen haben würde. Im Bildprogramm des neuen Zentrums nahm das Marx-Monument gerade in dieser Hinsicht eine Scharnierfunktion ein. Der Rückbezug auf Marx legitimierte die auf den Magistralen in Bildern und Monumenten präsenten Bezüge zur Geschichte der Arbeiterbewegung als wissenschaftliche und alternativlose Stationen einer gesetzmäßigen historischen Entwicklung. Sie führten vor, "wie der Marxismus auf deutschem Boden lebendige Wirklichkeit geworden ist." [29] Durch die Präsenz des Marx-Monumentes im Ensemble wurden auch vordergründig emanzipatorische Bildinhalte - so Horst Zickelbeins Wandbild "Die Befreiung der Wissenschaft durch die sozialistische Revolution" und Horst Cremers Plastik "Und sie bewegt sich doch! - Galilei" in der Stadthalle - in den historisch-materialistischen Deutungskontext einbezogen. Mit Ausnahme der Gedenkstätte sind alle diese Objekte bis heute unverändert im Stadtbild zu finden.

Abb. 14, 15. Karl-Marx-Monument mit Schrifttafel, Aufnahme von 2010, Wandbild "Die Befreiung der Wissenschaft durch die sozialistische Revolution", Aufnahme von 2007.

In einer ästhetisch gewandelten Form nimmt das Kunstkonzept des Zentrums den Wunsch nach städtebaulicher Harmonie, der für die stalinistische Baukunst der frühen fünfziger Jahre bestimmend war, wieder auf. Das künstlerische Programm vermittelt das Bild einer Gemeinschaft, die im Glauben an die "weltverändernde Kraft des Marxismus-Leninismus" [30] vereint ist, durch ihn zu sich selbst gekommen und von allen Widersprüchen befreit ist. So modern die äußerlich formale Gestaltung dieses Bildprogramms in Abgrenzung zu den früheren stalinistisch-klassizistischen Projekten erscheint, so antiquiert und im Kern unverändert ist das Rollenverständnis, das es seinen Besuchern aufzwingt. Die allgegenwärtige sozialistische Symbolik überwältigt den Betrachter, anstatt ihn wie ursprünglich geplant zur Kommunikation anzuregen. Obwohl der zentrale Platz und sein Umfeld nur Fragment geblieben sind, sind sie deshalb eines der letzten städtebaulichen Zeugnisse der DDR, bei dem die Prämissen des Sozialistischen Realismus konsequent zur Anwendung kamen. Die Bevölkerung entzog sich diesen Vereinnahmungsversuchen, indem sie sich ironisch von den Parteibauten distanzierte und Bezeichnungen wie "Schnarchsilo" oder "Bettenbunker" für das Hotelhochhaus, "Parteifalte" für die SED-Bezirksleitung und das sprichwörtliche "Nischel" (sächsisch für "Kopf") für das Marxmonument erfand.

 

4. "Man hat sich halt dran gewöhnt." [31] Diskussionen um den Platz nach 1990

Mit dem Zusammenbruch der DDR gerieten die architektonischen Manifeste des Sozialismus endgültig in Widerspruch zu einer Bevölkerung, die auf der Suche nach ihrer über Jahrzehnte unterdrückten Identität war. Nicht nur der Name 'Karl-Marx-Stadt', auch ihr sozialistisches Zentrum wurden alsbald in Frage gestellt. Der Wunsch nach Selbstbestimmung, nach Einkaufs- und Flaniermöglichkeiten, nach Stadträumen "voller Leben bei Tag und Nacht" [32] dominierte die Stadtplanung der neunziger Jahre. Chemnitz erhielt seinen alten Namen zurück und entdeckte seine vernachlässigte, perforierte Altstadt wieder. Während im historischen Zentrum Architekten wie Helmut Jahn und Hans Kollhoff versuchten, den neuentstehenden Konsumtempeln ein mehr oder weniger vielseitiges und interessantes Antlitz zu verleihen, geriet das Ensemble "Zentraler Platz" ins Abseits. Eine Verbindung des sozialistischen Zentrums mit der historischen Altstadt, wie sie der Siegerentwurf eines städtebaulichen Ideenwettbewerbs von 1991 vorgeschlagen hatte, erfolgte nicht. Der Stadtrat beschloss im Jahr 1997 stattdessen, den Altstadtring des alten Chemnitz wiederherzustellen, den Georg Funk 1958 mit seinem Entwurf für die sozialistische Metropole aufgebrochen hatte. [33] Die Folge ist, dass die Stadt heute zwei Zentren besitzt, die räumlich und funktionell nicht harmonieren. Mit überbreiten Dimensionen und leerstehenden Ladengeschäften geben der "Zentrale Platz" und die umgebenden Demonstrationsstraßen ein trauriges Bild ab. Sie sind nur noch Durchgangsraum für den Autoverkehr und mit Ausnahme einiger Touristen und Skateboarder am Marxmonument praktisch menschenleer. Die Kunden ziehen die neugeschaffene Altstadt dem weiträumigen und zugigen sozialistischen Zentrum vor. Einzig der direkt an eine Einkaufsgalerie grenzende Stadthallenpark übt bei gutem Wetter eine gewisse Anziehungskraft aus.

Die heutige Einstellung der Bevölkerung zum Platz um das Marx-Monument ist widersprüchlich. Einerseits nimmt sie kaum Notiz von ihm, andererseits ist sie äußerst aufmerksam gegenüber allen Bestrebungen, das Platzgefüge zu verändern oder das Marx-Monument in seiner Totenruhe zu stören. Marx und sein bauliches Umfeld haben sich zu einem Politikum entwickelt. Erregte Diskussionen brandeten auf, als 2009 die Firma Ikea den Philosophen als Werbeträger nutzen oder als die ortsansässige Neue Sächsische Galerie das Denkmal 2008 in einer Kunstaktion einhausen wollte. [34] Dabei waren Anfang der neunziger Jahre Stimmen, die für einen Abriss des Monuments plädierten, keine Seltenheit und es entlud sich ein mediales Gewitter über dem sächsischen Landeskonservator Gerhard Glaser, als er derartigen Plänen mit der Entscheidung, das Monument, Fassadenrelief und die Terrasse unter Denkmalschutz zu stellen, [35] Einhalt gebot. [36]

Abb. 16. Das eingehauste Marxmonument 2008.

Mittlerweile sieht man vieles entspannter. Niemand stört sich mehr daran, dass das Marx-Denkmal nachts wieder mit Licht in Szene gesetzt wird, nachdem die dafür installierte Beleuchtungsanlage nach der Wiedervereinigung zuerst für ein halbes Jahrzehnt ausgeschaltet worden war. [37] Debatten über das Für und Wider des Monuments, die immer wieder für kurze Zeit aufflammen, versanden schnell wieder in Desinteresse. Marx ist das "Maskottchen der Stadt" [38], ein Fixpunkt, der mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht, ein touristisches Highlight, doch der Monumentalkopf wie das gesamte Areal scheitern an ihrer fehlenden Alltagstauglichkeit, für die sie zwar nicht geplant waren, die sie aber unter Beweis stellen müssen. Obwohl unter Fachleuten unstrittig ist, dass der Bereich des sozialistischen Zentrums einen ideellen und städtebaulichen Bruch im Stadtgefüge markiert und ein Hindernis zwischen der Innenstadt und ihren gründerzeitlichen Erweiterungen im Norden darstellt, [39] geht man in der Stadt aber der Frage nach dem "Wie weiter?" konsequent aus dem Weg. Natürlich hat Chemnitz, wenn man an den Stadtumbau Ost und die noch immer nicht geschlossene Bebauung im Bereich der historischen Altstadt denkt, städtebaulich dringendere Probleme, die die Aufmerksamkeit der Bevölkerung und der Stadtverwaltung stärker auf sich ziehen, aber das Monument und sein Umfeld haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer "Heiligen Kuh" entwickelt, über die man nicht debattiert. Ein Grund für fehlende Auseinandersetzung ist die kaum zu lösende Schwierigkeit, einerseits respektvoll mit dem Erbe der sozialistischen Stadtplanung umzugehen und die Wirkung dieses einzigartigen Ensembles zu erhalten, es aber andererseits an neue Bedürfnisse anzupassen. Die Einhausung des Karl-Marx-Monuments durch die Neue Sächsische Galerie, die im Jahr 2008 zum Nachdenken über dessen Zukunft anregen sollte, blieb folglich wirkungslos. [40]

Der fehlende öffentliche Konsens über den Umgang mit den Bauten der DDR ist umso problematischer, da im Jahr 2010 ohne begleitende öffentliche Debatte im Wettbewerb "Justiz- und Behördenzentrum Chemnitz Innenstadt" der Fahrplan für die baulichen Maßnahmen der kommenden Jahre festgelegt worden ist. Das Land Sachsen gestaltet im kommenden Jahrzehnt das Gebäude des ehemaligen Rates des Bezirkes und der SED-Bezirksleitung, die sogenannte "Parteifalte" samt dem vorgelagertem Marxmonument sowie den rückseitig gelegenen Parkplatz des Ensembles zu einem neuen Behördenzentrum um. Keiner der prämierten Entwürfe tastet die Platzfront an, sondern belässt sie in ihrem musealen Charakter. Teilnehmer, die die überlange Platzfront aufbrachen, begehbar machten oder sogar die ehrfürchtige Erscheinung Marx' durch leichte Veränderungen zu brechen versuchten, kamen nicht einmal in die engere Auswahl. [41] Das Wettbewerbsergebnis fand entsprechend keine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Alles beim Alten zu belassen ist nicht nur der günstigere, sondern auch der emotional einfachere Weg. Die Brüche durch die Planung des sozialistischen Chemnitz werden damit dauerhaft unaufgelöst bleiben. Ein Kommentar der Chemnitzer Freien Presse vom August 1994, der dem Denkmalschutz für das Karl-Marx-Monument gewidmet war, hat deshalb nichts von seiner Aktualität verloren: "Ãœber den großen Denkerkopf in der Brückenstraße mag man denken was man will, feststeht, daß er fest steht, wohl für die Ewigkeit. Denn das Monument aus DDR-Zeiten wurde mit einer Entscheidung des Freistaats jetzt noch zementiert." [42]

 

ABBILDUNGSNACHWEIS

Abb. 1: Ulf Dahl / Matthias Zwarg (Hg.): Chemnitz aus der Luft. Mit einem Vorwort von Matthias Zwarg. Chemnitz 2007. S. 13, (c)Punkt 191.

Abb. 2: Zentraler Wahlausschuss der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands. Wir wissen was morgen geschieht. Berlin 1958.

Abb. 3, 6: Lothar Hahn: Gestaltung und Aufbau des Zentrums von Karl-Marx-Stadt. In: Deutsche Architektur 8 (1959), S. 239-246, S. 243f.

Abb. 4,5,8-14: Eigene Aufnahmen.

Abb. 7: Wettbewerb Zentraler Platz Karl-Marx-Stadt. In: Deutsche Architektur 10 (1961), S. 23-33, S. 25.

Abb. 15: Flickr.com (c) gravitat~on

Abb. 16: Flickr.com (c) Claus Wolf



[1] Vgl. G. Minerwin: "Die Leninsche Theorie der Widerspiegelung und die Fragen der Theorie des sozialistischen Realismus." In: Deutsche Architektur 2 (1953), S. 114-120.

[2] Heike Delitz: "Architektur als Medium des Sozialen. Ein Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie." In: Sociologica internationalis 43 (2005), 1-2, S. 1-25.

[3] Vgl. Simone Hain: "Zur historischen Bedeutung und planungstheoretischen Bewertung der 'Reise nach Moskau'." In: IRS (Hg.): Reise nach Moskau. Quellenedition zur neueren Planungsgeschichte. Berlin 1995, S. 7-11, S. 10.

[4] Kurt Hager: "Grundfragen des geistigen Lebens im Sozialismus, Teil II: Die DDR ist richtig programmiert. Beitrag auf der 10. Tagung des ZK der SED." Zitiert nach: Hermann Henselmann: "Zur Prognose des Städtebaus und der Architektur." In: Deutsche Architektur 19 (1970), S. 134-137, S. 134.

[5] Alfred Becker: "Zur Frage des Inhalts in Städtebau und Architektur." In: Deutsche Architektur 12 (1963), S. 660-665, S. 661.

[6] Edmund Collein: "Ãœber den Aufbau unserer Stadtzentren." In: Deutsche Architektur 11 (1962), S. 69-74, S. 70.

[7] Henselmann 1970 (vgl. Anm. 4), S. 134.

[8] Hermann Henselmann: "Wie wir heute bauen, werden wir morgen leben." In: Deutsche Architektur 11 (1962), S. 75ff., S. 75.

[9] Robert Havemann zitiert nach Heinz Brandt: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West. München 1985, S. 291.

[10] Andreas Ludwig: "Menschenbilder: Der sozialistische Mensch. Zur Konstituierung eines Idealtypus am Beispiel der frühen Jahre Eisenhüttenstadts." In: Rosmanie de Haan (Hg.): Aufbau West, Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit. Ostfildern-Ruit 1997, S. 323-331, S. 329.

[11] Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED: Mit dem Sozialismus gewachsen. 25 Jahre DDR. Berlin (Ost) 1974, S. 6.

[12] 1950 verordneten Moskauer Architekten und Stadtplaner ihren DDR-Kollegen die Abkehr von modernen Konzepten und die Hinwendung zu "nationalen" Stilen. Norddeutsche Backsteingotik, Berliner Klassizismus und Dresdner Barock bestimmten für die nächsten fünf Jahre die Architektur.

[13] Neuere Forschungen belegen, dass es im Einzelfall durchaus Möglichkeiten für Städte und Architekten gab, Einfluss auf das Baugeschehen zu nehmen, vgl. etwa Christoph Bernhardt / Heinz Reif (Hg.): Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung. Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag in der DDR. Stuttgart 2009. Wenn es wie hier um grundsätzliche Entscheidungen zu Zeiten einer intakten Bauideologie ging, setzte jedoch die "Architekturkontrolle" in Form des Beirates für Architektur und oft auch Walter Ulbricht persönlich die Parteiinteressen durch.

[14] Hans Georg Lippert: "Klassisches Erbe. Zum Begriff der Nationalen Traditionen in der frühen DDR." In: Kai Kraskopf / Hans Georg Lippert / Kerstin Zaschke (Hg.): Neue Traditionen. Konzepte einer antimodernen Moderne in Deutschland von 1920 bis 1960. Dresden 2009, S. 327-357, S. 328.

[15] Herbert Riecke: Mietskasernen im Kapitalismus - Wohnpaläste im Sozialismus. Die Entwicklung der Städte im modernen Kapitalismus und die Grundsätze des sozialistischen Städtebaus. Berlin (Ost) 1954, S. 36f. (Hervorhebung durch den Verfasser).

[16] Gerd de Bruyn: Die Diktatur der Philanthropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken. Braunschweig, Wiesbaden 1996, S. 26.

[17] Collein 1962 (vgl. Anm. 6), S. 71.

[18] Lothar Hahn: "Gestaltung und Aufbau des Zentrums von Karl-Marx-Stadt." In: Deutsche Architektur 8 (1959), S. 239-246, S. 239.

[19] Autorenkollektiv: Lebensweise und Moral im Sozialismus. Berlin (Ost) 1974.

[20] Stadtarchiv Chemnitz, Rat der Stadt 1945-1990. Nr. 11086, Hotel Zentraler Platz. [1961], Bl. 12ff.

[21] Vgl. Georg Funk: "Die Neugestaltung des Altstadtkernes von Karl-Marx-Stadt (Entwicklungsstufen und Ordnungsprinzipien der Planung)." In: Zur Rekonstruktion von Stadtzentren. 1. Kolloquium für Städtebau an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar. Weimar 1960, S. 63-80, S. 64.

[22] Hahn 1959 (vgl. Anm. 18), S. 239.

[23] Stadtarchiv Chemnitz, Rat der Stadt 1945-1990. Nr. 21023, Wettbewerb Freiflächengestaltung Zentraler Platz Karl-Marx-Stadt. 02.04.1969, o. Bl.

[24] Hellmut Opitz / Hermann Heinz Wille: Karl-Marx-Stadt. Leipzig 1965, S. 20.

[25] Illustriert ist es mit Gedichten von Bertold Brecht, hierzu gehören das "Lob des Kommunismus", das "Lob der Partei", das "Lob der Revolutionäre", das "Lob der Dialektik" und das "Lob des Lernens".

[26] Vgl. Kurt Müller: "Der Aufbau von Karl-Marx-Stadt - ein Werk der Einheit der Arbeiterklasse". In: Deutsche Architektur 15 (1966), S. 200f., S. 200.

[27] Vgl. Interview mit Lew Kerbel. In: Freie Presse. 30.08.1971; vgl. ausführlicher zur Planungsgeschichte und zur Inszenierung des Monuments Alice von Plato: "(K)ein Platz für Karl Marx. Die Geschichte eines Denkmals in Karl-Marx-Stadt." In: Adelheit von Saldern (Hg.): Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städten. Stuttgart 2003, S. 147-182.

[28] Günter Schabowski: Abschied von der Utopie. Stuttgart 1994, S. 27.

[29] Erich Honecker: "Die Welt von heute atmet den Geist von Marx, Engels und Lenin. Ansprache des Ersten Sekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker, bei der Enthüllung des Karl-Marx-Denkmals am 9. Oktober 1971 in Karl-Marx-Stadt." In: Freie Presse, 11.10.1971.

[30] Stadtarchiv Chemnitz, Rat der Stadt 1945-1990. Nr. 21023, Wettbewerb Freiflächengestaltung Zentraler Platz Karl-Marx-Stadt. 02.04.1969, o. Bl.

[31] So eine Bürgermeinung in: DDR-Architektur ist ein Stück Stadtgeschichte. In: Freie Presse, 30.08.1994.

[32] "Schöne Maske für das Gesicht von Chemnitz." In: Freie Presse, 12.10.1995.

[33] Vgl. Harald Bodenschatz: "Das Ringen um das verlorene Zentrum." In: Stadt-Bauwelt 87 (1996), S. 708-713, S. 709f.; der Gewinner des Ideenwettbewerbs von 1991, der die City bis zum Schillerplatz entwickeln, Altstadt und Brühlviertel wieder verdichten und in diese Strukturen den zentralen Platz integrieren wollte, ist abgedruckt bei Wolfgang Seidel: Innenstadt Chemnitz: Shopping-Mall oder Stadt-Rekonstruktion. In: ebd., S. 714-718, S. 715. Vgl. auch Udo Lindner (Hg.): Chemnitz, Karl-Marx-Stadt und zurück. Chemnitz 2001, S. 162ff.

[34] Vgl. Grit Baldauf: Marx schmökert im Ikea-Katalog. In: http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/REGIONALES/1611443.php (16.02.2011); "Nischl" spaltet die Chemnitzer Gemüter. In: http://www.sachsen-fernsehen.de/default.aspx?showNews=263185&ID=1095 (16.02.2011).

[35] Ursprünglich war geplant, auch die Platzrandbebauung, Stadthalle und Hotelhochhaus unter Schutz zu stellen. Hiergegen erhob die Stadtverwaltung erfolgreich Einspruch. Interview mit Thomas Morgenstern (Leiter Untere Denkmalschutzbehörde Chemnitz), 11.03.2010.

[36] Der Abriss des Denkmals sei ein "Angriff auf den gesellschaftlichen Besitz an Erinnerungsmaterial", der "abgewehrt werden muß", Hans-Ernst Mittig: "Politische Denkmäler und Kunst am Bau." In: Verfallen und vergessen oder aufgehoben und geschützt? Architektur und Städtebau der DDR - Geschichte, Bedeutung, Umgang, Erhaltung. Dokumentation der Tagung des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz am 15./16. Mai 1995 in Berlin. Berlin 1995, S. 23-32, S. 29.

[37] Vgl. zur Kritik: "Beleuchteter 'Nischel' liegt vorerst auf Eis." In: Freie Presse, 20.03.1996.

[38] Interview mit Mathias Lindner (Direktor Neue Sächsische Galerie), 02.03.2010.

[39] Diese Meinung teilten nicht nur die Interviewpartner, sondern auch das prominent besetzte Symposium "Utopolis - Wunschfabrik Stadt", das im Juni 2008 begleitend zur Einhausung des Monuments die Perspektiven des Platzes diskutieren wollte, aber konkrete Antworten schuldig blieb.

[40] Interview mit Mathias Lindner, 02.03.2010.

[41] Eine Analyse der Siegerentwürfe findet sich im Blog des Autors, http://chemnitzgebloggt.wordpress.com/2010/03/20/stadtebaulicher-ideenwettbewerb-justiz-und-behordenzentrum-chemnitz-innenstadt-2/ (15.02.2011). Auch glich die Ausstellung des Wettbewerbs eher einer Präsentation, als dass sie Möglichkeiten zur Debatte bot.

[42] Innenstadt als DDR-Museum? In: Freie Presse, 27./28.08.1994.

Volltext

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html abrufbar.

erstellt von Toni Jost zuletzt verändert: 19.11.2019 09:29
Mitwirkende: Jost, Toni
DPPL