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Editorial

  1. Dr. Dipl.-Ing. Karl R. Kegler ETH Zürich; gta; Professur Architekturtheorie (Prof. Moravánszky)

Zusammenfassung

Vorwort zur Ausgabe #004 *archimaera* (Dezember 2011)

Keywords


Sterblichkeit ist eine Grundbedingung menschlichen Daseins; — ist Vergänglichkeit eine Grundbestimmung von Architektur? Die Architekturgeschichte kennt Bauten, die Jahrhunderte, auch Jahrtausende überdauert haben. Ebenso gibt Häuser und Konstruktionen, die nach wenigen Jahren abgebrochen werden oder abgebrochen werden-müssen, ohne Opfer zielgerichteter Zerstörung zu sein. Schon diese wenigen Bemerkungen illustrieren die ungeheure Bandbreite, die die Frage nach der Lebensdauer von Architekturen anspricht. Und das Spektrum ist noch breiter, denn analog zum Dasein von lebenden Wesen spricht die bau- und immobilienwirtschaftliche Forschung auch von Lebenszyklus und Lebensphasen von Bauten. Durch Bilder, Pläne oder Erinnerung reicht das Leben oder Nachleben selbst von verlorenen und zerstörten Bauten schließlich weit über ihre physische Existenz hinaus.

Angesichts des breiten historischen Referenzrahmens, den das Thema Lebensdauer anspricht, waren wir bei der Vorbereitung dieser vierten Ausgabe von archimaera überrascht, wie aktuell das Spektrum der Beiträge ausfällt. Die Autoren beschäftigen sich fast durchgehend mit Themen und Phänomenen, welche die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts betreffen und oft auch die unmittelbare Gegenwart ansprechen. Die Lebensdauer von Architektur – so die Erkenntnis – ist gerade für Bauten aus unserer Gegenwart eine sehr aktuelle Fragestellung. Dies erklärt vielleicht auch, dass das Medium der Fotografie in dieser Ausgabe mit etwas stärkerem Gewicht vertreten ist als in den vorhergehenden Nummern. Christof Klute hat in den vergangenen Jahren sämtliche unités d'habitation Le Corbusiers bereist und veröffentlicht in dieser Ausgabe Fotos, welche diese berühmten Bauten der 50er und 60er Jahre nicht als architektonische Ikonen, sondern als Zeugnisse dokumentieren, die ihre Nutzungsgeschichte nicht verbergen. Daniel Lohmann zeigt einige Bilder aus einem langjährigen Dokumentationsprojekt, das Inschriften auf Architekturoberflächen zum Motiv hat. Diese heute lesbaren, aber fast systematisch übersehenen Zeugnisse sind oft die letzten Botschaften von den früheren Bewohnern und Nutzungen eines Hauses. Die digital verfremdeten Fotografien von Tania Reinicke, die Bauten der 60er und 70er Jahre im Ruhrgebiet dokumentieren, begleiten den Artikel von Silke Lagenberg, der sich der Entstehungsbedingungen und Ãœberlebenschancen dieser Bauten der Boomjahre zuwendet. Langenberg wendet sich einer Gruppe von Bauten zu, deren Erbauer weniger einen zeitlos ästhetischen Anspruch einzulösen suchten als eine zeitspezifische Antwort auf Forderungen nach einem effizienten und industrialisierten Bauen, das in Flexibilität und Erweiterbarkeit den Ansprüchen einer sich schnell verändernden Industriegesellschaft gerecht werden sollte. Heute ist das Ãœberleben vieler dieser vergleichsweise jungen Bauten aufgrund veränderter technischer und ästhetischer Anforderungen fraglich.

Zwei Beiträge zu Beginn des Heftes befassen sich mit Architekturen der ehemaligen DDR, die etwa zeitgleich zu den Bauten in der Bundesrepublik entstanden, denen sich Langenbergs Beitrag zugewendet hat. Elmar Schenkel nimmt das Bauensemble der ehemaligen Karl-Marx-Universität am Leipziger Augustusplatz zum Anlass, um in grundsätzlicher Form über Vergänglichkeit und Perfektion von Architekturen nachzudenken. Das Bauensemble der Leipziger Universität war nach dem Weltkrieg zunächst gesichert worden, dann aber ließ die SED-Führung im Jahr 1968 die Hauptgebäude und die in das Ensemble eingebundene Paulinerkirche durch eine Sprengung zerstören. Nach der Wende waren es wiederum die Neubauten der sozialistischen Universität, die dem Abbruch zum Opfer vielen. Das neue Ensemble am Augustusplatz, das im Laufe des Jahres 2012 eingeweiht wird, stellt die Universitätskirche im Moment ihres Einsturzes dar – Paradoxien der Vergänglichkeit. Ein zweiter Beitrag widmet sich der sozialistischen Neubauplanung in Chemnitz/ Karl-Marx-Stadt. Toni Jost reflektiert die grundsätzliche Schwierigkeit der DDR-Planer, ein Bauensemble für eine kommunistische Gesellschaft zu entwickeln, in der – so die sozialistische Ideologie – ein ewigwährender Endzustand der Geschichte eintreten sollte. Der Beitrag entfaltet, mit welchen Mitteln die Architekten in Karl-Marx-Stadt diesen weitgespannten Anspruch einzulösen suchten und wie ihre Architektur heute wahrgenommen wird.

Die folgenden Beiträge von Michael Wegener, Markus Helbach und Christoph Mäckler reflektieren Einflüsse, welche auf unterschiedlicher Ebene Lebensdauer und Leistungsfähigkeit gebauter Systeme bestimmen. In verschiedener Weise stehen die Beiträge unter dem Leitthema der Nachhaltigkeit. Michael Wegener wendet sich dem Grundriss der "europäischen Stadt" zu. Er betrachtet die Veränderungsgeschwindigkeiten und die Reaktionsfähigkeit von Städten angesichts neuer technischer, gesellschaftlicher und vor allem verkehrsmäßiger Entwicklungen. Einmal gebaute Stadtstrukturen erweisen sich als sehr viel ausdauernder als einzelne Gebäude. Auf Basis des aktuellen Methodenwissens versucht der Beitrag eine Antwort auf eine Frage, die angesichts des absehbaren Endes der Mobilität mit fossilen Brennstoffen besonders drängend ist: Müssen wir unsere Städte umbauen? Markus Helbach wirft auf der Ebene des Einzelgebäudes ein ähnlich grundlegendes Problem auf. Lässt sich der Verbrauch von Energie und Rohstoffen in der Produktion und Nutzung von Bauten auf grundsätzliche Art neu begreifen, bilanzieren und organisieren? Das Cradle-to-Cradle-Konzept, das Helbach in seinem Beitrag vorstellt, bietet darauf eine mögliche Antwort. Der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler schließlich betrachtet in seinem Beitrag die ästhetischen Folgen einer einseitig verstandenen Nachhaltigkeitsdiskussion. Die aus Gründen von Energieeinsparung notwendigen Wärmedämmsysteme können nicht erfolgreich und deshalb auch nicht nachhaltig sein, wenn sie Schönheit und geschichtliche Tiefe von Architekturfassaden unter banalen Hüllen mit begrenzter Lebensdauer und fraglicher Umweltverträglichkeit verschwinden lassen. Auch Schönheit zählt zu den knappen Ressourcen, die in einer Bilanzierung von Nachhaltigkeit betrachtet werden müssen.

Der letzte Abschnitt thematisiert in drei Beispielen die Zeichen- und Medienbezüge von Architekturen. Nach der schon erwähnten Fotodokumentation Daniel Lohmanns berichtet der Zürcher Architekt Martin Saarinen vom Umbau einer Barackenarchitektur, die in Zürich längst zu einer cineastischen Institution geworden ist: dem Kino Xenix. Während in vielen vorhergehenden Beiträgen Verschwinden und Abriss von Architekturen ein Thema waren, erzählt dieser Beitrag eine genau entgegengerichtete Geschichte: das Fortbestehen eines Provisoriums weit über seine ursprünglich geplante Lebensdauer hinaus. Das Thema Kino ist schließlich auch Gegenstand des Beitrages von Judith und Karsten Ley, der in doppelter Weise einen neuen Bezugsrahmen im Themenspektrum des Heftes öffnet. Einmal beschäftigt er sich mit dem antiken Rom und zweitens wendet er sich dem medienvermittelten Bild von Architekturen zu. Das Bild des antiken Rom im Film ist ein Stück medialer Architekturgeschichte, die ihre Heimat sehr viel mehr im zwanzigsten Jahrhundert hat als in der Antike selbst. Ein Verständnis der hier greifenden Prozesse medialer Präsenz und intermedialen Zitierens erklärt mittelbar, welche Kraft medienvermittelte Vorstellungsbilder längst verlorener Bauten in aktuellen Architekturdiskussion einnehmen können.

Der Herausgeber dankt den Autoren für die Ergebnisse ihrer Arbeit, die hohe Qualität ihrer Beiträge und für ihre Geduld im Zustandekommen des Heftes. archimaera wünscht eine anregende Lektüre!

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Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html abrufbar.

erstellt von Karl R. Kegler zuletzt verändert: 19.11.2019 09:17
Mitwirkende: Kegler, Karl R.
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