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"Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen." [2]

(Michel Foucault)

Diese Orte an den Rändern der Gesellschaft nennt Foucault Heterotopien. Ihre bestimmenden Kriterien hat er im Dezember 1966 in zwei Radiovorträgen beim Sender France-Culture zum Thema Utopie und Literatur erstmals skizziert. 1967 hielt er auf Einladung des Architekten Ionel Schein, der für seine radikalen Ideen bekannt war, beim Cercle d'études architecturales einen Vortrag zur selben Thematik. Seine Veröffentlichung autorisierte er erst im Jahr 1984 unter dem Titel Von anderen Räumen.

Foucault gibt in seiner Abhandlung zwar konkrete, d.h. räumliche Beispiele für die von ihm entwickelten Heterotopie-Kategorien, führt diese aber nicht näher aus, da er sich auf die grundsätzliche Bedeutung des Heterotopie-Konzepts konzentiert. Ausgehend von den bei Foucault genannten Beispielen versucht der vorliegende Aufsatz, jene zunächst in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung einzuordnen, um sie dann in einem zweiten Schritt in der heutigen Zeit neu zu kontextualisieren und im konkreten Raum der Stadt zu verorten. Ausgangspunkt für die Ãœberlegungen ist dabei der grenzüberschreitende und grenzziehende Charakter der Heterotopien. [3]

Das diesen Essay begleitende Achitekturmodell mit dem Titel Stalker, the Professor and the Writer landing at Heterotopia thematisiert das Verhältnis zwischen Heterotopie und Gesellschaft vor dem Hintergrund des Phänomens der Grenze mit anderen Mitteln. Grenzen können konkret materiell sein, symbolisch im Sinne Bourdieus oder nur für den Eingeweihten lesbar. Sie können ethisch oder moralisch sein oder sich im virtuellen Raum verflüchtigen. Das Modell hingegen zeigt die Heterotopien in einer Zeit-Raum-Kompression und führt sie auf ihre atmosphärischen Merkmale zurück. Wandert man durch das Gerüst, das die Heterotopien losgelöst von ihrem städtisch-materiellen Kontext kompakt neben- und übereinander stapelt, befinden sich die Grenzen in uns selbst. Wir spüren, wie die Heterotopien über das Jetzt und Hier hinausgreifen: Sie verweben uns mit anderen Sphären, Wünschen, Begierden, Illusionen. Sie wiegen uns in Geborgenheit oder rufen gezielt kontrollierte Irritationen hervor und lassen uns einen distanzierten und sicheren Blick auf das 'Andere' werfen. Die Grenzüberschreitung erfüllt uns mit spannungsvoller Erwartung, der distanzierte Blick über die gezogene Grenze lässt uns erschauern. Die inneren Grenzen, die sowohl die Existenz des Menschen als auch ihre gesellschaftliche Setzung markieren, und das dahinter Befindliche oder Verborgene bedingen sich wechselseitig: gäbe es das Jenseitige nicht, wäre die Grenze obsolet.

Der Titel des Modells verweist auf die Thematik des Films Stalker von Andrej Tarkowskij (UdSSR 1980). [4] Dort macht sich eine Expedition auf den beschwerlichen Weg durch die verbotene Zone, ein verlassenes Industrieareal, das vom Dickicht der Natur zurückerobert wurde. Ziel ist das Zimmer, in dem alle Wünsche in Erfüllung gehen. Die Expeditionsteilnehmer bahnen sich ihren Weg durch die Zone, das "Meer der Kontingenz", das "Ungekerbte" (Deleuze/Guattari) auf der Suche nach festem Land unter den Füßen, dem "Land der Wahrheit" (Kant). Schlägt man an dieser Stelle den Bogen zu Foucault, so stellt sich die Frage nach der Existenz einer 'ultimativen Heterotopie'. Ihr soll nach dem gedanklichen Durchmessen der Heterotopien abschließend im Epilog des Essays nachgegangen werden.

Abb. 01. Stalker, the Professor and the Writer landing at Heterotopia. © Modell Studio USE Konstanze Noack.

Heterotopien: Grenzen des Denkens, der Gesellschaft und des konkreten Raumes

Kontext: Diskurse, Dispositive und ihre räumliche Disposition

Die Schnittstelle von Foucaults Arbeit mit der Architektur liegt in seiner Darlegung der jeweiligen zeitbezogenen analogen Struktur des wissenschaftlichen Denkraums, der gesellschaftlichen Organisation und ihrer konkreten räumlichen Konfiguration in Architektur und Stadt.  [5] Um herauszuarbeiten, durch welche Faktoren und Wechselwirkungen sich gesellschaftliche Wirklichkeit ausbildet, analysiert Foucault einerseits die wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskurse  [6] , die das bestimmen, was als jeweilige Wahrheit anerkannt wird, und andererseits die Dispositive  [7] , die nicht nur Normen, Regeln und Diskurse beinhalten, sondern darüber hinaus auch eine damit einhergehende räumlich-strukturelle Konfiguration.

Die Ordnung, die diskursiv hervorgebracht wird, ist immer schon topologisch und räumlich: sie schließt ein und schließt aus, sie konfiguriert zueinander und stellt spezifische Beziehungen und Grenzen her. Das, was dadurch als jeweilige Wahrheit definiert wird, wird dialektisch durch das, was ausgeschlossen wird, bestimmt. Darüber hinaus hält das gesellschaftlich Ausgeschlossene dem gesellschaftlich Anerkannten den Spiegel vor als das eigentlich Wahre aber Ambivalente und Verdrängte, wie Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft expliziert: "Von jenem Tage an [als die Institutionalisierung der Psychiatrie den Wahnsinn aus der Kriminalität herauslöste und ihn verwissenschaftlichte, K.N.] hat der Mensch Zugang zu sich selbst als wahrem Wesen. Aber jenes wahre Wesen ist ihm nur in der Form der Alienation gegeben".  [8]

Gesellschaftliche Ordnungen, Konventionen, Traditionen und Werte, ethische Normen und juristische Regeln haben stets die Aufgabe, das, was die scheinbare Gewissheit des Menschen immer wieder in Zweifel zieht, zu kontrollieren und in seine (gesellschaftlich kodierten) Schranken zu weisen – und zwar nicht nur normativ, sondern auch in ihrer konkreten räumlichen Konfiguration und Grenzziehung.

Heterotopien: Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen

In seinem Essay Von anderen Räumen stellt Foucault fest, dass es Orte gibt, "denen die merkwürdige Eigenschaft zukommt, in Beziehung mit allen anderen Orten zu stehen, aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren".  [9] Damit sind zwei Arten von Räumen gemeint: Utopien und Heterotopien.

Die utopischen Räume stehen in genauem Gegensatz zu den realen Verhältnissen und haben dennoch einen direkten Bezug zur Realität, indem sie die Schieflagen der Zeit thematisieren. Sie produzieren damit zugleich ein vollkommenes Bild (einer utopischen Gesellschaft) und ein Gegenbild (zur bestehenden Gesellschaft). Sie sind jedoch nur oberflächlich kristallin, homogen und ohne Differenzen, da sie die widersprüchliche Komplexität des Menschen und seiner Vergesellschaftung ignorieren.

Demgegenüber existieren in unserer Wirklichkeit Orte, "reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden".  [10] Diese Orte, die Foucault Heterotopien nennt, sind sozial relevante, real existierende Orte. Als Gegenorte der bestehenden Gesellschaft sind sie zugleich notwendige Orte, da sie dem Raum geben, was dem Menschen zugehörig, aber von der Gesellschaft ausgeschlossen ist oder was die Gesellschaft verunsichert. Heterotopien fungieren laut Foucault genauso wie die Utopien als Spiegel der Gesellschaft: "Ich bin, wo ich nicht bin, gleichsam ein Schatten, der mich erst sichtbar für mich selbst macht und der es mir erlaubt, mich dort zu betrachten, wo ich gar nicht bin: die Utopie des Spiegels".  [11]

Der Spiegel als Inversionsmedium von der Wirklichkeit zur Heterotopie ermöglicht es mir, so Foucault, meiner Identität gewahr zu werden, mein Ich zu konstituieren. Er versetzt mich an einen Ort, an dem ich nicht real bin, steht aber mit der Realität in Verbindung, indem er diese widerspiegelt. Dieses Spiegelbild kann ich nur über den virtuellen Punkt außerhalb des Spiegels sehen, der aber gleichzeitig mein Standpunkt ist. Der Spiegel offenbart die Orte, welche außerhalb der Ordnung stehen, da sie innerhalb Unordnung stiften würden, oder welche die Ordnung überhöhen, um die Komplexität der Realität zu reduzieren. Laut Foucault sind dies suspekte Orte, da sie zutiefst verankert sind in den Gegebenheiten, die die menschliche Existenz ausmachen: Heterogenität und Diskontinuität der gelebten Zeit, Ewigkeit und Endlichkeit, Lebensabschnitte, Ãœbergänge, Krisen, Eros und Thanatos  [12] – Momente, in denen der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird, Momente der Ich-Erfahrung oder Ich-Entgrenzung.

Ausgangspunkt ist der Körper, diese in den Worten Foucaults "gnadenlose Topie"  [13] , wobei Foucault den Körper nicht von der Seele trennt. Im Gegenteil: Imagination, Ich-Erfahrung und Ich-Entgrenzung begreift er als zutiefst körperliche Erfahrungen. Doch ist in seiner Auffassung dieses körperliche Subjekt mitnichten ahistorisch. Es wird gesellschaftlich konstituiert, wobei die gesellschaftliche Bestimmung das Subjekt in eine "Mikrophysik der Macht"  [14] einbindet, die immer schon räumlich ist: "Die Menschen treten ständig in einen Prozess ein, der sie als Objekte konstituiert und sie dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der sie als Subjekte umgestaltet".  [15] Das Subjekt kann gemäß Foucault aber auch Techniken der Autonomisierung entwickeln, mit denen es sich dieser Macht entzieht und Widerstand leistet.  [16]

Abb. 02, 03. Das Modell zeigt die grenzüberschreitenden und grenzziehenden Heterotopien in der Stadt. Die isolierte Abweichung, die Selbstisolation der Gated Community, die perforierte Grenze der Ferienressorts, die transparente Systematisierung des Wissens, die Repräsentation des Makrokosmos, die latente Existenz des Rotlichtviertels, die diffundierende des Festes und die virtuelle des Web. © Studio USE Konstanze Noack.

Heterotopien: Kennzeichen

Michel Foucault verzichtet in seinem Aufsatz Von anderen Räumen auf eine langwierige Ausführung der Heterotopien und beschreibt vielmehr das Netz, das diese anderen Orte zusammenbindet: Heterotopien sind diejenigen Orte, die quer zum gesellschaftlichen Konsens einer Zeit stehen und dennoch Teil von ihr sind. Nach Foucault gibt es sechs Kennzeichen der Heterotopie, die er mit folgenden Beispielen belegt:

1. Jede Kultur bringt Heterotopien hervor. Diese manifestieren sich z.B. in privilegierten, heiligen und verbotenen Räumen.

2. Die Heterotopien verändern ihre Funktionsweise im Laufe der Geschichte. Beispiele hierfür sind die seit ehedem ritualisierten und in die Gemeinschaft integrierten Ãœbergangsphasen des Lebens – die "Krisen"–, die zunehmend zur isolierten Abweichung institutionalisiert werden.

3. Heterotopien besitzen die Fähigkeit, entfernte Räume an einem Ort zu verknüpfen (z.B. das Kino, das Theater) oder einen Makrokosmos in einem Mikrokosmos zu spiegeln (z.B. der Garten).

4. Heterotopien können zugleich Heterochronien sein, also zeitliche Brüche, Zeitakkumulation (z.B. Museen, Bibliotheken, Archive) oder Zeitlichkeit thematisieren (z.B. Feste).

5. Heterotopien setzen ein System der Öffnung und Schließung voraus (z.B. Eingangskontrollen, Zugangsberechtigungen, Reinigungsrituale).

6. Heterotopien bewegen sich zwischen den beiden Polen der Illusion und der Ordnung, indem sie entweder einen illusionären Raum schaffen, der allerdings den realen Raum als noch größere Illusion entlarvt (z.B. Freudenhäuser), oder einen vollkommen geordneten (utopischen) Raum, der die Unvollkommenheit des realen Lebens 'kompensiert' (z.B. religiöse Kolonien).

Einordnung und Neukontextualisierung der Heterotopien unter dem Kriterium der Grenze

Im Folgenden soll ausgehend von Foucaults Beispielen untersucht werden, welche Formen des Umgangs mit der Unsicherheit des Lebens die heutige Gesellschaft findet – etwa mit unstabilen Ãœbergangsstadien, der Ãœberschreitung des 'Normalen', der temporären Flucht aus dem Alltag, der Ewigkeit und Endlichkeit. Es wird analysiert, wie sich die Heterotopien in der heutigen Zeit räumlich ausprägen, wie sie sich abgrenzen oder auch in den Raum der Stadt hinein diffundieren. Untersuchungskriterium ist die Grenze, sowohl in Bezug auf Grenzüberschreitungen der Person als auch auf die konkreten Grenzziehungen innerhalb der Stadt.

Grenzüberschreitungen: Die ephemere Diffusion, das latente Tabu und die virtuelle Illusion

 

Heterotopie des Ausnahmezustands: Vom temporären Volksfest zur Dauer-Eventisierung der Stadt

Die Feste  [17] als kalendarisch fixierte Ausnahmezustände waren stets der gesamten Bevölkerung zugänglich. Karneval und Kirmes waren mitten in der Stadt verortet, die Jahrmärkte später meist vor der Stadt und nicht selten durch ein Tor zu betreten.  [18] Sie ermöglichten ein temporäres Ausbrechen aus dem Alltag, die Begegnung mit dem Exotischen, den Nervenkitzel, den Rausch in der Anonymität und Gleichheit der Masse sowie die Möglichkeit erotischer Abenteuer.

Das Phänomen der Masse charakterisiert sich nach Elias Canetti  [19] durch bestimmte Automatismen: Konstitutiv ist die "Entladung", das Aufgeben der Individualität und der sonst herrschenden ausgeprägten Kontrolle des körperlichen Abstands zueinander. Dies führt laut Canetti zu einer ungeheuren "Erleichterung", einer Selbstentgrenzung in der Masse und einem kollektiven rauschhaften Glückszustand. In diesem Zustand der Freiheit und der über die individuellen Fähigkeiten hinauswachsenden Möglichkeiten strebt die Masse zur Entgrenzung, zu Enthemmung, Ãœbermut und Exzessivität im Schutz der Anonymität, zum Eins-Sein mit der Masse. Im Gegensatz zu geschlossenen Massen verleiben sich die offenen immer mehr Nichtbeteiligte ein. Die Euphorie vervielfältigt sich und springt über die Grenzen der ursprünglichen Initiatoren hinweg.

Den Rausch in der Masse finden wir heute in der fortschreitenden Eventisierung der Stadt,  [20] die die Stadt nicht nur für ihre Bewohner, sondern auch für Touristen attraktiv machen soll. Diese Events sind mitten in der Stadt verortet und diffundieren in den Stadtraum auf zweierlei Art und Weise: Auf der einen Seite finden sich Massen zu gemeinsamen Sportveranstaltungen, Konzerten, Stadtfesten, Filmfestivals, Public Viewings, Silvesterpartys oder Volksfesten zusammen. Auf der anderen Seite verschmelzen Zuschauer und Akteure bei den Umzügen des Karnevals, der Love-Parade oder des Christopher-Street-Days zu einer gemeinsamen Masse. Diese euphorischen Massen sind zwar an festgelegte Veranstaltungsorte oder Parcours gebunden, sie diffundieren aber in die Stadt hinein und verbreiten dort ihre positive Energie weiter.

Die Ãœberschreitung der Grenze der Person wird nicht nur durch die Anonymität der Masse, das Eins-Sein in der Masse, sondern auch durch das Tragen einer Maske beim Karneval möglich. Die Maske nivelliert genauso wie die Masse alle Standesunterschiede und sozialen Verhaltenscodes. Sie trennt zwei Seiten und verbindet sie gleichzeitig. Sie ist ein "Sowohl-als-auch" genauso wie ein "Entweder-oder".  [21] Die Maske verdeckt das Gesicht und ist damit zugleich das Gesicht. Die Maske bezeichnet aber auch die Differenz zwischen dem, was gezeigt wird, und dem was verborgen wird zwischen Schein und Sein, Täuschung und Wahrheit, "sie ist das Unterscheidende selbst".  [22] Die Maske kann die Scham des Menschen verhüllen, was im Umkehrschluss heißt, dass der Mensch mit der Maske alle Hemmungen ablegen kann.

Lediglich das Shopping-Event, welches den Außenraum nach innen stülpt und ihn in ein konstantes verkaufsförderndes Klima versetzt, ist permanent verortet und formuliert eine semipermeable Grenze, die durch die Solvenz der Besucher bestimmt wird, denn in diesen gesicherten und kontrollierten halböffentlichen Räumen ist ein reiner Aufenthalt ohne Konsum nicht erwünscht.

Abb. 04. Die Heterotopie des Spiegels, auch stehend für die Entgrenzung in der Masse und Maske. © Studio USE Konstanze Noack.

Heterotopie des Tabus: Anonymes Ein- und Abtauchen in das Rotlichtviertel

Eine große Rolle spielt die Wahrung der Anonymität bei den Orten, die permanent existieren und ein temporäres Ein- und Abtauchen in das Tabu der ausgelebten und außerehelichen oder unkonventionellen Sexualität ermöglichen: Orte wie Stundenhotels, Bordelle, Clubs und Motels sind entweder im Nirgendwo der Knotenpunkte von Transiträumen und Grenzzonen angesiedelt oder in klar abgezirkelten Straßenzügen und Sperrbezirken innerhalb der Städte, auch hier häufig angedockt an Orte der Durchreise wie Häfen und Bahnhöfe. In der Ortlosigkeit des Motels oder der klaren Begrenzung der Rotlichtviertel kann sich der Besucher seiner Anonymität und der absoluten Diskretion sicher sein. Er muss nur durch ein Tor schlüpfen (wie z.B. in der Braunschweiger Bruchstraße) oder in einen Straßenzug einbiegen.

Bis zur Schaffung des neuen Prostitutionsgesetzes im Jahr 2002 lebten die Prostituierten in einem rechtsfreien Raum. Prostitution war zwar legal aber sittenwidrig und deshalb zivilrechtlich nicht erfasst. Die rechtliche Einbindung und Regelung bedeutet aber noch lange keine Akzeptanz in der Gesamtbevölkerung. Sie dient lediglich der vermeintlichen Kontrollierbarkeit von 'anormalen' und unerwünschten Phänomenen. Anwohner und Passanten meiden oftmals die Straßen der Rotlichtviertel, da diese Räume mit Unsicherheiten und Ängsten besetzt sind. Dies hat seinen Grund zum erheblichen Teil darin, dass Prostitution als Sex ohne Liebe und als Promiskuität konträr zur bürgerlichen monogamen ehelichen Liebesbeziehung steht, welche die bestehende Moral auf ihrer Seite hat.  [23]

Abb. 05. Die Heterotopie des Ein- und Abtauchens (das Rotlichtviertel), nur über eine Wendeltreppe erreichbar und nicht über die Haupterschließung. © Studio USE Konstanze Noack.

Heterotopie der Illusion: Illusionäre Authentizität im kommerziellen Medienformat und illusionäre Parallelwelt im virtuellen Web

Die Moral bedient sich des Gewissens in Form der Beichte, welche dazu dient, die Verfehlung der Normalität zu gestehen. Die Norm definiert die Anormalität und die Notwendigkeit und Art der Kontrolle. Das Geständnis bildet auch in der Landschaft des profitorientierten Privatfernsehens einen wichtigen Bestandteil. Vor Millionen von Fernsehzuschauern werden Geständnisse abgelegt, die nicht nur Leiden, Verfehlung und Unvollkommenheit öffentlich machen, sondern stets auch mit Selbstdarstellung verbunden sind.  [24] Diese mediale Beichte befriedigt zweierlei: eine exhibitionistische Zurschaustellung und eine voyeuristische Schaulust. Entgegen der ursprünglichen Möglichkeit des Kinos, sich mittels des fiktionalen Films in illusionäre Welten versetzen zu lassen, dominiert in Anbetracht der großen Nachfrage der Reality-TV-Formate  [25] der Wunsch nach Authentizität. Hier werden nicht prominente, sondern 'normale' Menschen voyeuristisch bei der Lösung sozialer Krisensituationen begleitet. Hier wird keine Fiktion sondern das scheinbar echte Leben dokumentiert und das Intime öffentlich zur Diskussion gestellt. Es gibt kein Drehbuch, und weder die Fernsehmacher noch die Zuschauer wissen, wie die nächste Folge ausgeht, was den großen Erfolg dieser Formate mitbestimmt. Doch die vermeintliche Dokumentation des 'echten Lebens' ist nur eine Illusion: die Regisseure provozieren kritische Situationen und Gefühlsausbrüche und schneiden das gefilmte Material letztendlich dramaturgisch zusammen.

Genau andersherum verhält es sich in den virtuellen Welten des Web. Hier wird nicht gestanden, sondern die eigene Unzulänglichkeit verschleiert und eine virtuelle Identität konstruiert. Man kann sich mit anderen in Chatrooms treffen und (erotische) Abenteuer erleben – im Surrogat der virtuellen aber letztendlich einsamen Realität des Web.

Während im Reality-TV alle Masken fallen und die virtuelle Parallelwelt des Web aus Maskierten besteht, so zeigt laut Richard Weihe das Theater andererseits "die Illusion nur, um Desillusionierung zu inszenieren. Das Theater arbeitet seit jeher mit dem Gegenstand oder dem Sinnbild der Maske – um zu zeigen, wie das 'Leben', das Handeln des Menschen, die Maske wegreißt".  [26]

Abb. 06. Die Heterotopie der Illusion und zugleich der Ãœberwachung. © Studio USE Konstanze Noack.

Grenzziehungen und Komplexitätsreduktion: Ordnung und Übersicht durch Systematisierung, Repräsentation, Programmierung, Kompensation und Institutionalisierung

Das bisher Gesagte hat einen Bogen gespannt von der temporären Überschreitung des Alltags im flüchtigen Ausnahmezustand des Festes (das heute zunehmend zum Dauerevent avanciert) über das reale Abtauchen in das Tabu und das Virtuelle des Web, bis hin zur Offenbarung im Reality-TV. Hier wird die Grenzüberschreitung explizit provoziert, der Rausch im Anderen und Verborgenen des Alltags gesucht.

Die entgegengesetzte Strategie des Umgangs mit dem Suspekten, Anderen und Unkontrollierbaren, mit Ewigkeit und Endlichkeit besteht darin, absolute Ordnung und Übersichtlichkeit zu schaffen durch Institutionalisierung, Verwissenschaftlichung, Bürokratisierung, Systematisierung, Kontrolle und Überwachung. Ordnung kann dabei sowohl synchron erzeugt werden, also die Gegenwart erfassend und die Zukunft antizipierend, als auch diachron, d.h. die Vergangenheit rückwirkend systematisierend.

Heterotopie der Systematisierung: Ordnung von Wissen, Bibliotheken, Archive und Museen

Während im Theater und Kino auf dem Rechteck der Bühne oder Leinwand verschiedene Zeiten und Räume illusionär zusammenfallen, werden sie in Sammlungen, Archiven, Museen und Bibliotheken real und in taxonomischer Ordnung nebeneinander gestellt. Viele dieser Sammlungen haben ihre Vorläufer in den Schaubuden der Jahrmärkte, die verwissenschaftlicht und humanisiert wurden. Die Zoologischen Gärten entwickelten sich aus dem Ruf nach einer artgerechteren Haltung der Tiere gegenüber den wandernden Menagerien. Sie dienen seitdem nicht mehr nur der Schaulust des Publikums, sondern sehen ihre Aufgabe im Artenschutz und in der wissenschaftlichen Forschung und Volksbildung. Die auf den Jahrmärkten gezeigten körperlichen Anomalien verschwanden aus ethischen Gründen vollständig von der Bühne und wanderten als formalin-konservierte Präparate in die Kellergeschosse der pathologischen Abteilungen der medizinhistorischen Museen.

Die Bibliotheken bilden nach wie vor die größte systematische Akkumulation von Zeit und Wissen, wobei gegenwärtig immer mehr bedeutende Institutionen ihr Wissen allgemein zugänglich im grenzenlosen virtuellen Raum des Web zur Verfügung stellen.

Abb. 07. Die Heterotopie der Zeitakkumulation in der Systematisierung als Basis des Gerüsts der Gesellschaft und der Insel. © Modell Studio USE Konstanze Noack.

Heterotopie der Repräsentation: Vom Garten zum Science-Center und den Weltausstellungen

Die Brücke vom (kosmischen) Ganzen zur symbolischen Darstellung im Kleinen vermochte stets der Garten zu schlagen. Die hängenden Gärten des Persischen Reichs, die arabischen oder indischen Gärten des Islam, die griechischen und römischen Peristylgärten, die römischen Villengärten, die umschlossenen Gärten des Mittelalters in den Städten und Klöstern, die Renaissancegärten, die französischen Barockgärten, die englischen Landschaftsgärten oder die japanischen Zengärten symbolisierten himmlische Schönheit, Frömmigkeit, irdische Lust und dienten als aus der Natur und dem Alltagsleben ausgegrenzte Orte dem Rückzug der Frauen, der erotischen Ausschweifung, der Repräsentation politischer Macht, der melancholischen Sehnsucht, dem Lustwandeln oder der Meditation.  [27] Gärten und Parks spiegeln in ihrer Gestaltung und Nutzung vielleicht sogar mehr noch als die Architektur die jeweilige gesellschaftliche Verfasstheit und ihre eigene Positionierung im großen Ganzen, d.h. in der Beziehung zu Natur und Kosmos, wider.

Die Transformation der übergreifenden Zusammenhänge in eine menschlich begreifbare Dimension finden wir heute in den Science-Centern, allerdings mit dem Fokus der erlebten und unterhaltenden Bildung. Sie ermöglichen haptische und sinnliche Expeditionen durch den menschlichen Körper, die Kontinente, die Meere oder das Weltall, ähnlich wie die Länderpavillons auf den Weltausstellungen die Essenz des Selbstverständnisses und den Stand der Forschung eines Landes auf ein paar Quadratmetern synästhetisch repräsentieren.

Abb. 08. Die Heterotopie des Gartens als Makrokosmos im Mikrokosmos. © Studio USE Konstanze Noack.

Heterotopie der Programmierung: Ferienressorts

Auf eine ganz andere Art und Weise wird ein exotischer Mikrokosmos in den von Foucault angesprochenen Feriendörfern oder heutigen Ferienressorts hergestellt. Hier wird das Fremde zum Klischee reduziert und damit in den eigenen Horizont integriert. Bei dieser Art des programmierten Urlaubs wird das Exotische mit dem Bekannten gemischt, so dass das Bekannte die ausreichende Sicherheit gibt, während das Exotische das Gefühl von Freiheit und Abenteuer vermittelt. Die vermeintliche Freiheit und der Kitzel des Abenteuers vermischen sich mit dem Gefühl des Ursprünglichen und Primitiven, denn, so Foucault, "es geht nicht darum, auf diesem Wege die Zeit anzusammeln, sondern im Gegenteil, sie auszulöschen, um zur Nacktheit und Unschuld des Sündenfalls zurückzukehren".  [28] Die Grenze fungiert hier als Filter und lässt durch ihre Perforationen nur das in den eigenen Horizont Integrierbare hinein.

Abb. 09. Die Heterotopie der Programmierung, der "Rückkehr zur Nacktheit und Unschuld des Sündenfalls" (Foucault). © Studio USE Konstanze Noack.

Heterotopie der Kompensation: Von den religiösen und kommunistischen Utopien zu den Gated Communities

Zu den Ursprüngen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zurück zu finden war auch das Ziel der Utopien seit Thomas Morus.  [29] Michel Foucault beschreibt die Heterotopien als "tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden".  [30]

Diejenigen Heterotopien, die Foucault als "kompensatorisch" bezeichnet, versuchen das ideale Zusammenleben zu realisieren, indem sie die bestehenden Unsicherheiten durch eine alles ergreifende Ordnung zu kompensieren versuchen. Sie reduzieren das Leben auf klare Ordnungsstrukturen und klammern alles aus, was Unruhe stiften könnte. Gleichzeitig unterwerfen sie die Ordnung einer Ideologie, die Voraussetzung für ihre Gemeinschaft ist und im Falle der religiösen Gemeinschaften bis in die Tiefen des Gewissens dringt. Die Grenzen des Privaten werden hier permanent überschritten und eine kritische Öffentlichkeit eliminiert. Beides geht transparent im Kollektiven auf, und die leichteste Verfehlung führt zum Ausschluss aus der Gemeinschaft. Foucault führt als Exempel hierfür die Jesuitenkolonie in Paraguay an, die von 1610-1767 bestand. Weitere Beispiele sind die an die Ideen des Frühsozialisten Charles Fourier anknüpfenden genossenschaftlich organisierten Kommunen.

Fernab von Religion oder Kommunismus bestimmt der Wunsch, die Unsicherheit, Bedrohlichkeit und Komplexität des Lebens aus dem eigenen Lebensbereich auszuschließen, die Entstehung von Gated Communities  [31] – seit den 1970er Jahren zunächst in Nord- und Südamerika und seit den 1990er Jahren verstärkt auch in Asien und Europa. Hier motiviert nicht nur die Angst vor Kriminalität, sondern auch der Wunsch nach Abgrenzung von anderen Gesellschaftsschichten und nach der Selbstbestimmung und -gestaltung des Lebensumfelds die Abschottung von einer vermeintlich chaotischen Umwelt. Die Einzäunung und die Zugangskontrollen vermindern wie die Einführung von Verhaltenscodes und Gestaltungsstatuten die Vielfalt widerläufiger Interessen und Meinungen und erleichtern somit Abstimmungsprozesse. Ordnung und Zugehörigkeit werden sichtbar gemacht durch Kleidungs- und Verhaltensregeln bezüglich der angebotenen Freizeitaktivitäten, durch die Reglementierung der Kubatur der Häuser und ihrer Farb- und Gartengestaltung, sowie der Nutzung der straßenseitigen Gartenbereiche. Auch hier existiert kein öffentlicher Raum, der bestimmt ist durch die Aushandlung verschiedener Meinungen oder durch die dynamische Weiterentwicklung mittels Kritik, da die Vielfalt der möglichen Positionen von vorneherein eliminiert ist.

Abb. 10. Heterotopie der Kompensation. Die geordnete 'rosa Welt' der Gated Community. © Studio USE Konstanze Noack.

Heterotopie der Abweichung: Psychiatrien, Krankenhäuser und Gefängnisse

Um mit den biologischen "Krisen", wie sie Foucault nennt, den Ãœbergängen zwischen den Lebensphasen, dem Wendepunkt von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter, vom ledigen zum verheirateten Stadium, dem Wochenbett oder dem Sterben umgehen zu können, wurden diese in 'primitiven' Gesellschaften ritualisiert. Der beängstigende und verunsichernde Ãœbergang von einer sich abschließenden Phase in eine neue wurde durch Initiations- und Ãœbergangsriten kollektiv begleitet, denen bestimmte Orte des Hauses oder der Gemeinschaft zugewiesen waren. Diese Riten haben eine zweifache Bedeutung: erstens strukturieren sie den Ãœbergang und geben somit Orientierung, und zweitens weisen sie aufgrund ihres symbolischen Gehalts auf das Besondere des neuen Lebensabschnitts hin.  [32]

Abb. 11. Heterotopie der medizinhistorischen Präparate, des Stillstands und der Aussonderung aus der Gesellschaft, nur über eine Wendeltreppe und nicht über die Haupterschließung zu erreichen. © Modell Studio USE Konstanze Noack.

Wie bereits Foucault feststellt, sind diese Krisenheterotopien immer mehr im Verschwinden begriffen. Sie sind heute in den Alltag integriert und finden keine besondere Erwähnung mehr. Die Begleitung der Schwangerschaft oder sogar die Fortpflanzung selbst, die Geburt und das Sterben finden überwiegend eingebettet in die Krankenhausroutine statt. Hier zeichnet sich die Tendenz zur Institutionalisierung und Bürokratisierung der biologischen Krise ab, die in der heutigen Zeit den Abweichungsheterotopien Platz macht. Die Orte der physischen, psychischen, sozialen oder juristischen Abweichung wie Sanatorien, Krankenhäuser, Psychiatrien, Erziehungsheime und Gefängnisse haben mit Hilfe ihrer Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung die Heilung, Normalisierung und Läuterung, d.h. die funktionale Wiedereingliederung in die Gesellschaft zum Ziel. Geriatrien und Asylantenheime dagegen sind Heterotopien des Stillstands. Sie verwalten das vollständige Ausscheiden aus bzw. die Isolation von der Gesellschaft.

Die Zeit spielt bei diesen Heterotopien nach wie vor eine wichtige Rolle: Krisenheterotopien thematisieren eine Ãœbergangsphase, und Abweichungsheterotopien sind durch ihre Verwissenschaftlichung ebenso zu Orten des Ãœbergangs vom Anormalen zur gesellschaftlichen Wiedereingliederung geworden. In die Abweichungsheterotopien wird man eingewiesen. Die Heilung bzw. Läuterung findet außerhalb der Gesellschaft statt – entweder räumlich isoliert außerhalb der Stadt im Falle der Erziehungsheime, Asylantenheime und Sanatorien, oder mit physischen Mauern und Ein- und Ausgangskontrollen versehen im Falle der Krankenhäuser, Psychiatrien und Gefängnisse. Diese Abweichungsinstitutionen liegen tatsächlich – der medizinischen Bedeutung des Begriffs Heterotopie entsprechend  [33] – wie andersartige Einschlüsse im 'gesunden' Gewebe der Stadt. Sie sind eine terra incognita, im Falle der Krankenhäuser von erheblichem Flächenausmaß, die vom öffentlich zugänglichen Raum der Stadt abgeschottet ist.

Fazit: Chaos, Ordnung und Subversion

Die vorgenommene Kategorisierung in grenzüberschreitende und grenzziehende Heterotopien zeigt folgendes: Die grenzüberschreitenden Heterotopien haben eine ephemere, latente oder virtuelle, also allesamt eine nicht fassbare Dimension. Die Grenzüberschreitungen selbst sind immateriell, ihren Ursprung haben sie dennoch in der körperlichen Person:

Die Überschreitung der Grenze des Alltags und seiner Verhaltenskodizes im Rausch der Masse des Events hat ihren räumlichen Ausgangspunkt an einem fest umgrenzten Ort oder Parcours. Dort sind die Events äußerst präsent, da die Masse einen Raum besetzt, der im Alltag bestimmte Abläufe aufnimmt, für welche er nun vorübergehend nicht zur Verfügung steht. Die Masse trägt aber, wenn sie sich auflöst, ihre Euphorie diffundierend in den Raum der Stadt hinein.

Die Überschreitung der bürgerlichen Moral findet durch das reale Eintreten in das Rotlichtviertel statt, welches im Rückraum der Stadt eindeutig definiert ist. Mit der Überschreitung dieser Grenze wird die Person quasi unsichtbar, indem sie aus dem öffentlichen Raum verschwindet.

Die Überschreitung der Grenze des Privaten geschieht im Raum des TV-Formats und des Web. Sie wird in der Regel im privaten Raum konsumiert und erlebt, ist aber über das Medium selbst wiederum hochgradig öffentlich.

Die materiellen Grenzen wiederum haben dreierlei Art Funktion: Das Abweichende wird durch Ausschluss aus der Gesellschaft bzw. aus dem öffentlichen Raum isoliert. Andersherum wird die beängstigende Vielfalt durch freiwilligen Ausschluss, also durch die eigene Abschottung, ferngehalten. Die dritte Möglichkeit ist die Filterung des Fremden. Um es in den sicheren Horizont des Innen zu integrieren, wird eine kontrolliert perforierte Grenze geschaffen.

Eine andere Strategie der Kontrolle über das Komplexe, Unfassbare, Ungeordnete, Vielfältige ist seine Systematisierung durch Archive, Museen und Bibliotheken oder die Reduktion auf seine Repräsentation durch die Transformation des Makro- und Mikrokosmos auf eine menschlich begreifbare Mesoebene wie beim Garten, beim Science-Center oder bei den Weltausstellungen.

Eingangs haben wir mit Foucault festgestellt, dass der zeitbezogene Raum des Denkens, seine Ãœbertragung auf die gesellschaftlichen Strukturen und seine architektonisch-stadträumliche Ausprägung analog sind, was sich in den Heterotopien widerspiegelt. Die Architekten sind, genauso wie alle anderen Gesellschaftsgruppen, im Denkraum ihrer Zeit verankert. Sie versuchen – die Herausforderungen und Möglichkeiten ihrer Zeit berücksichtigend – dem Alltag und dem Besonderen im Alltag sowie der gesellschaftlichen Organisation Raum und Form zu geben. Verfolgt man die verschiedenen Strömungen der Architektur seit der Moderne, so kann man feststellen, dass diese stets zwischen den beiden Polen der absoluten Ordnung und der Offenheit der Stadt hin und her pendeln.  [34] Die Architektur versucht, eine Beziehung zwischen architektonischer Form, Mensch und Gesellschaft herzustellen. Dies kann über ihre Proportion, Funktion, Struktur, Typologie oder über semiotische Zeichen geschehen. Die Herangehensweise und das architektonische Repertoire sind zwar je verschieden, aber bezüglich des Stadtraums geht es stets um die formale Ausformulierung gesellschaftlicher Grenzen, Zonen und Ãœbergänge – sowohl vom Außen zum Innen als auch vom Öffentlichen zum Privaten.

Diese gesellschaftlichen wie materiellen Grenzen können reproduziert aber auch überschritten und subversiv unterwandert werden.  [35] So kann die Heterotopie durch Widerständigkeit auch vollkommen dispers werden. Widerstand ist nicht nur in der Konfrontation mit der Herrschaft existent, sondern allen mikrophysischen Machtbeziehungen als Möglichkeit inhärent: in den widerständigen Praktiken des Alltags, der Verweigerung, dem Entzug, der Autonomisierung der Subjekte, der Resistenz und Abweichung. Die Gesellschaft produziert nicht nur institutionalisierte und affirmative Orte der Kontrolle über das Abweichende und der Ordnung des Ungewissen. Sie produziert gleichzeitig disperse und allgegenwärtige Widerstände: "Diese Widerstandpunkte sind überall im Machtnetz präsent […]. Große radikale Brüche, massive Zweiteilungen? So was kommt vor. Aber weit häufiger hat man es mit mobilen und transitorischen Widerstandspunkten zu tun, die sich verschiebende Spaltungen in eine Gesellschaft einführen, Einheiten zerbrechen und Umgruppierungen hervorrufen, die Individuen selber durchkreuzen, zerschneiden und umgestalten, in ihrem Körper und in ihrer Seele abgeschlossene Bezirke abstecken. Wie das Netz der Machtbeziehungen ein dichtes Gewebe bildet, das die Apparate und Institutionen durchzieht, ohne an sie gebunden zu sein, so streut sich die Aussaat der Widerstandspunkte quer durch die gesellschaftlichen Schichtungen und die individuellen Einheiten".  [36]

Abb. 12. Grenzüberschreitung als Widerstand und Subversion. © Modell Studio USE Konstanze Noack.

Epilog: Stalker, the Professor and the Writer landing at Heterotopia

Könnte man demnach die ultimative Heterotopie als absolute Grenzüberschreitung oder Grenzziehung verstehen? Wohl kaum, denn gerade die Nichtexistenz des Absoluten oder der einen Wahrheit bringt die Heterotopien erst hervor. Der Ausgangspunkt der grenzüberschreitenden Heterotopien ist das Vorhandensein einer Grenze, während der Ursprung der grenzziehenden Heterotopien die Existenz des Ambivalenten ist. In der Grenzziehung wird das Unsichere, Unbewusste, Andere, Fremde, werden Ewigkeit und Endlichkeit offenbar. Der Grenzüberschreitung ist die Suche nach dem, was sich hinter den Grenzen eröffnen könnte, inhärent. Eine permanente Grenzüberschreitung würde nur auf Kosten jeglicher Kontrolle und eine absolute Grenzziehung auf Kosten jeglicher Freiheit verwirklicht werden können.

Dies ist auch die Thematik des Filmes Stalker von Andrej Tarkowskij aus dem Jahr 1980,  [37] in dem der Stalker (= Pfadfinder) und seine zwei Begleiter (exemplarisch ein Schriftsteller und ein Professor, die für die irrationale und die rationale Auseinandersetzung mit dem Leben stehen) auf eine Expedition in die verbotene Zone aufbrechen. Sie sind auf der Suche nach dem Zimmer, in dem alle Wünsche in Erfüllung gehen sollen, und das somit als ultimative Heterotopie im Sinne Foucaults gedeutet werden kann. Letztendlich umkreisen die Reisenden dieses Ziel aber nur. Die Neugier darauf, wie es wäre, alles Kontingente und alle Unsicherheiten aus dem Leben zu verbannen, sowie die Verlockung einer gewissen Zukunft sind groß, doch die Expeditionsteilnehmer werden sich auf dem beschwerlichen Weg zu dem verheißenen Ort darüber klar, dass die Erfüllung aller Wünsche das Leben ad absurdum führen würde. Sie scheuen letztendlich vor den Konsequenzen des Eintretens zurück, denn die Heterotopien betten die Wünsche in einen zeitbezogenen gesellschaftlichen Kontext und somit in die konkrete räumliche Wirklichkeit des Lebens ein. Sie sind die Orte der Grenzüberschreitung und der Grenzziehung, die Orte, die die bestehenden Grenzen übertreten und diejenigen, die versuchen Grenzen herzustellen, Ordnung zu schaffen und Kontingenz zu reduzieren. Die Grenzüberschreitung impliziert eine Grenze und die Grenzziehung das Ambivalente.

In einem ähnlichen Sinn verwendet Foucault am Ende seines Vortrags Von anderen Räumen die Metapher des Schiffs als Plädoyer für die Existenz von Heterotopien: "[…] wenn man bedenkt, dass Schiffe letztlich ein Stück schwimmenden Raumes sind, Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert […], […] das größte Reservoir für die Fantasie. Das Schiff ist die Heterotopie 'par excellence'. In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume. An die Stelle des Abenteuers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle der Freibeuter die Polizei".  [38]

Abb. 13. Stalker, the Professor and the Writer landing at Heterotopia. © Studio USE Konstanze Noack.



[1] Die Titelwahl des vorliegenden Aufsatzes erfolgte in Anlehnung an Günther Feuersteins Buch: Urban Fiction. Strolling through Ideal Cities from Antiquity to the Present Day. Stuttgart/London 2008, in welchem der Autor einen fiktiven Erzähler durch ideale und utopische Städte seit der Antike reisen lässt.

[2] Michel Foucault: "Von anderen Räumen". In: Michel Foucault. Dits et Ecrits / Schriften IV. Hg. von Daniel Defert. Frankfurt a. M. 2005a, Nr. 360, S. 931-942, 935.

[3] In seiner Kürze kann der vorliegende Essay das Thema der Heterotopien nicht in seiner Gänze durchleuchten oder erfassen. Auf eine Einordnung von Foucaults Heterotopie-Konzept in die multiperspektivische Verwebung von Wissen, Macht und Selbstverhältnissen, die sein Werk bestimmt, wird daher bewusst verzichtet. Auch die Neukontextualisierung der Heterotopien in der heutigen Zeit kann dieses komplexe Thema nur punktuell beleuchten.

[4] Die Verfilmung Stalker von Andrej Tarkovskij entstand nach Motiven der Erzählung Picknick am Wegesrand von Arkadi und Boris Strugazki (1972).

[5] Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Panoptikums, vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1994 [frz. 1974], S. 251ff.

[6] Diskurse bestimmen in der Begrifflichkeit Foucaults das, was als jeweilige Wahrheit anerkannt wird. Sie legen fest, was und wer aus dem Diskurs und somit der anerkannten Wahrheit ein- oder ausgeschlossen wird.

[7] Ein Dispositiv ist laut Foucaults Definition eine "heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierten Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann". Siehe Michel Foucault: "Das Spiel des Michel Foucault". In: Michel Foucault. Dits et Ecrits / Schriften III. Hg. von Daniel Defert. Frankfurt a.M. 2003, Nr. 206, S. 391-429, 392.

[8] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1973, S. 550.

[9] Foucault 2005a (vgl. Anm. 2), S. 934f.

[10] Foucault 2005a (vgl. Anm. 2), S. 935.

[11] Foucault 2005a (vgl. Anm. 2), S. 935.

[12] Daniel Defert: "Raum zum Hören". In: Michel Foucault. Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a. M. 2005b, S. 67-92, 77.

[13] "Mein Körper ist der Ort, von dem es kein Entrinnen gibt, an den ich verdammt bin. Ich glaube, alle Utopien sind letztendlich gegen ihn erschaffen worden, um ihn zum Verschwinden zu bringen. Worauf beruht denn das Ansehen, die Schönheit, die Faszination der Utopie? Die Utopie ist ein Ort jenseits aller Orte, aber ein Ort, an dem ich einen körperlosen Körper hätte, einen Körper, der schön, rein, durchsichtig, leuchtend, gewandt, unendlich kraftvoll, von grenzenloser Dauer, von allen Fesseln frei, unsichtbar, geschützt und in ständiger Umwandlung begriffen wäre". Doch nach einem kurzen Exkurs korrigiert er sich: "All diese Utopien, durch die ich meinen Körper hinter mir ließ, haben ihr Vorbild, ihren Ursprung und ihren allerersten Anwendungsbereich in nichts anderem als meinem Körper. Ich hatte eben Unrecht, als ich sagte, die Utopien richteten sich gegen den Körper und sollten ihn zum Verschwinden bringen. Sie sind aus dem Körper hervorgegangen […]. Eins ist jedenfalls sicher: Der menschliche Körper ist der Hauptakteur aller Utopien". Siehe Foucault 2005b (vgl. Anm. 12), S. 25.

[14] Der Machtbegriff ist bei Foucault scharf zu trennen vom Herrschaftsbegriff. Die "Mikrophysik der Macht" ist ihm zufolge das strategische Feld der vielfältigen Beziehungen der Subjekte zueinander, die durch eine räumliche Konfiguration unterstützt werden.

[15] Michel Foucault: "Gespräch mit Ducio Trombadori". In: Michel Foucault. Dits et Ecrits / Schriften IV. Hg. von Daniel Defert. Frankfurt a. M. 2005c, S. 51-118, 94.

[16] Dies nennt Foucault "Technologien des Selbst". Die verschiedenen Formen, die diese Autonomisierung annehmen kann, thematisiert er durchgehend in unterschiedlichen Zusammenhängen in seinem Werk.

[17] Siehe hierzu Sacha-Roger Szabo: Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte. Bielefeld 2006 und Brigitte Veiz: Das Oktoberfest. Masse, Rausch und Ritual. Sozialpsychologische Betrachtungen eines Phänomens. Gießen 2006.

[18] Die Kirmes ging aus der mittelalterlichen Kirchmesse hervor und verband mit dem Auftreten von Gauklern bereits kirchliche und weltliche Elemente. Die Entstehung der Jahrmärkte ging mit der Verleihung der Marktrechte einher und produziert insofern einen besonderen Raum, als im Marktfrieden die Steuerbelastungen und Zunftgesetze kurzfristig ausgesetzt waren und jeder Besucher vor Verfolgung geschützt wurde. Zeitlich parallel entstanden die Schützenfeste, die im Rahmen der Ablösung der Städte von der adeligen Hoheit die Selbstverteidigung der Bürger in Schießwettbewerben zelebrierten. Im 19. Jahrhundert entstanden die Volksfeste, wie z.B. 1810 das Oktoberfest, dessen Gründungsanlass die Vermählungsfeierlichkeiten zwischen Kronprinz Ludwig und Prinzessin Therese waren. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden dauerhafte Volksfeste, was eng mit dem Entstehen des Phänomens der Freizeit zusammenhing: so z.B. der Wiener Prater mit Bier- und Weinausschank, kulinarischer Versorgung und Karussellen. Die Entwicklung von Fahrgeschäften, z.B. den Riesenrädern als Wahrzeichen der Volksfeste, war eng an die technischen neuen Möglichkeiten der Industrialisierung gebunden.

Um 1900 wurden die Jahrmärkte von Schaubuden dominiert. Was den Jahrmarkt als 'anderen Raum' ausmachte, ist die Nivellierung der Standesunterschiede, die räumliche Nähe zum Anderen, die Masse an sich und das Versprechen des Rausches in der Synästhesie von Geräuschen, Gerüchen und Lichtern.

[19] In Veiz 2006 (vgl. Anm. 17), S. 40-78.

[20] Siehe zu diesem Thema grundsätzlich Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M./ New York 2005.

[21] Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München 2004, S. 47.

[22] Weihe 2004 (vgl. Anm. 21), S. 355.

[23] Martina Löw, Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt. Frankfurt a. M. 2011, S. 200.

[24] Hannelore Bublitz: Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis. Bielefeld 2010, S. 57.

[25] Siehe hierzu Anna Falcoianu: Reality TV. Ästhetik und Rezeption eines Programmgenres. Marburg 2010.

[26] Weihe 2004 (vgl. Anm. 21), S. 360.

[27] Vgl. Penelope Hobhouse: Der Garten. Eine Kulturgeschichte. London 2007.

[28] Foucault 2005b (vgl. Anm. 12), S. 17.

[29] Thomas Morus: Utopia, 1516.

[30] Foucault 2005a (vgl. Anm. 2), S. 935.

[31] Vgl. hierzu Daniela Pöder: Gated Communities. Symptom für einen Verfall der amerikanischen Gesellschaft? Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung. Berlin 2006.

[32] Zum Ritual siehe Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M., New York 2005 und Andréa Bellinger / David J. Krieger: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden 2008.

[33] Vgl. Sigurt Lax: "'Heterotopie' aus Sicht der Biologie und Humanmedizin". In: R. Ritter / B. Knaller-Vlay (Hg.). Other Spaces. Die Affäre der Heterotopie. Haus der Architektur Graz, Dokumente der Architektur 10, Graz 1998, S. 114-123.

[34] Siehe hierzu Sylvia Stöbe: Chaos und Ordnung in der modernen Architektur. Potsdam 1999 sowie Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz. München 1997.

[35] Vgl. hierzu Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988 [frz. 1980].

[36] Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a.M. 1983, S. 96f.

[37] Vgl. weiter oben Anm. 4.

[38] Foucault 2005a (vgl. Anm. 2), S. 942.

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erstellt von Konstanze Noack zuletzt verändert: 18.11.2019 13:20
Mitwirkende: Noack, Konstanze
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