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„Nun sag, wie hast Du’s mit dem Bestand?“ – Die Frage nach dem Verhältnis zum Bestehenden und zum Umgang mit dem Bestand könnte die Gretchenfrage der Architektur sein. In der heutigen Zeit, in welcher der Umfang von Gebäudesanierungen jenen der Neubautätigkeit deutlich übersteigt, stellt sich diese Frage mit Vehemenz. Doch steht sie mitnichten erst seit Kurzem auf der Tagesordnung. Ein Blick in die Architekturgeschichte zeigt, dass Architektur vielmehr stets in einen wie auch immer gearteten Kontext eingebettet war und ist: allgemein in den des Ortes selbst oder, spezifischer, in den der Stadt und in die Nachbarschaft einzelner Gebäude. Darüber hinaus bilden Bauten zudem ein selbstreferentielles Bezugssystem, das bei Umbauten in unterschiedlicher Weise wirksam wird (etwa durch Anerkennung, Betonung, Steigerung auf der einen und Ablehnung, Kontrastierung oder auch blosse Nichtbeachtung auf der anderen Seite). Und blickt man schließlich über diese materiellen Aspekte hinaus, so steht Architektur immer in einem Verhältnis zur Geschichte, nämlich zu der eines Ortes, eines Ereignisses und nicht zuletzt zur eigenen Geschichte, die für jedes Bauwerk schon in jenem Moment beginnen kann, in dem es erdacht wird, die spätestens aber dann beginnt, wenn es fertig gestellt ist.

Die in der vorliegenden sechsten Ausgabe von archimaera versammelten Beiträge nähern sich der Frage nach dem Umgang mit dem Bestand von der spezifischen Perspektive des „Einfügens“. Schon der erste, von Erik Wegerhoff verfasste Text zeigt die weitreichende Historie dieser architektonischen Strategie: Am Beispiel des Kolosseums weist Wegerhoff im Zusammenhang mit der Interpretation des antiken Bauwerks als vorgeblicher Schauplatz christlicher Martyrien verschiedene Etappen einer Überschreibung und Aneignung nach, die bereits im 16. Jahrhundert ebenso ideelle wie tatsächlich materialisierte Einfügungen motivierten. Hier übt die Geschichte, oder in diesem Fall genauer: die Geschichtsklitterung, ganz konkret einen direkten, ablesbaren Einfluss auf die Architektur aus. Der folgende Beitrag von Juliane Rückert arbeitet für die Malerei an den Buiten-Ansichten des 17. Jahrhunderts eine andere Art des „Einfügens“ heraus. Sie zeigt, dass der niederländische Maler Jacob van Ruisdael mit seinen aus idealisierter Landhausarchitektur und wildnishafter Landschaft bestehenden Kompositionen ein Gestaltungskonzept vorweggenommen hat, das erst im englischen Landschaftsgarten des folgenden Jahrhunderts realisiert werden sollte. Hierauf folgen zwei Beiträge, die zeitlich das 20. und das 21. Jahrhundert in den Blick nehmen: Zunächst widmet sich Scott Budzynski der Stadt Mailand als „Potential City“, wobei er das Potential der Nachkriegsarchitektur dieser Stadt, einem semiologischen Ansatz folgend, in ihrer Zeichenhaftigkeit und Bedeutung für ein projektiertes Neues untersucht. Darauf folgt der Beitrag von Wolfgang Bock und Sandra Schramke, in dem sich die Autoren dem Werk des chinesischen Pritzker-Preisträgers Wang Shu und seiner Frau Lu Wenyu widmen, die gemeinsam das Büro Amateur Architecture Studio führen. Das Einfügen wird hier einerseits in seiner handwerklichen Bedeutung als Fügen verstanden, andererseits aber auch als Haltung, mit deren Hilfe sich die Architekten den ökonomischen Forderungen und Zwängen der Bauwirtschaft entschleunigend entgegenstellen.

Der zweite thematische Teil fasst konkrete Projekte und Bauten ins Auge; der Zeitraum konzentriert sich auf die beiden letzten Jahrhunderte, der Maßstab ist städtebaulich und architektonisch. Den Anfang macht Harald Stühlinger, der den im Jahr 1858 durchgeführten Wettbewerb zur Bebauung der Wiener Ringstraßenzone zum Anlass nimmt, um dieses städtebauliche Projekt als Implantat in einen bestehenden Stadtkörper zu lesen. Mit seiner Analyse exemplarischer Situationen arbeitet er Strategien heraus, mit denen das Großprojekt bei den verschiedenen Etappen seiner Realisierung in Beziehung zu seiner unmittelbaren wie weiteren Umgebung trat. Der Chronologie folgend schließt der von Tomáš Valena verfasste Aufsatz an, in dem er Jože Plečnik bei seinen Eingriffen auf der Prager Burg beobachtet. Valena stellt darin ein von vielschichtigen Bezügen auf die Geschichte, die Stadt und den konkreten Ort des Hradschin durchzogenes Werk eines Architekten vor, der von großem Einfluss für einen anderen Zugang zur architektonischen Moderne des 20. Jahrhunderts sein sollte. Wiederum im städtebaulichen Maßstab bewegt sich die Untersuchung von Torsten Lange. Mit seiner diskursiven Baugeschichte der ab 1976 errichteten Großsiedlung Berlin-Marzahn zeigt er auf, dass „Nirgendwo nichts“ ist, sondern dass auch beim vorgestellten, von industriellen Baumethoden geprägten Großwohnungsbauprojekt Rücksichten auf vorhandene bauliche Strukturen eine nicht unwesentliche Rolle spielten. Lange zeichnet damit ein Bild, welches den landläufigen Konnotationen der charakterlosen Schlafstädte sozialistischer Prägung entgegensteht. Henry Keazor beleuchtet an zwei Bauten von Jean Nouvel dessen theoretisch fundierte Annäherung an das Bestehende: Seine 1986 begonnene Erweiterung der Oper in Lyon und der 2010 vollendete Neubau des sogenannten Nouvel-Towers in Wien veranschaulichen das System ineinandergreifender Strategien zum Umgang mit dem Bestand, das der Autor in Nouvels architektonischen Eingriffen erkennt. Eine Studie zu einem eher vernachlässigten Thema der baulichen Ertüchtigung schliesst diesen zweiten Themenblock ab: Der Beitrag von Herbert Keck und Maja Lorbek rückt nachträglich an den Gemeindewohnungsbauten des Roten Wien eingebaute Aufzüge in den Fokus; der Teufel steckt wie so oft im Detail, und es zeigt sich, dass selbst (oder gerade) eine derart sekundäre Bauaufgabe einen maßgeblichen Effekt auf das Erscheinungsbild der Architektur haben kann.

Im dritten Themenblock dieser Ausgabe sind zwei Beiträge zusammengefasst, die sich dem Thema des Einfügens am bautypologischen Spezialfall des Museums annehmen: In dem ersten der beiden Aufsätze legt Sonja Hnilica die entscheidende Rolle dar, welche Leonie Reygers beim Umbau des Dortmunder Museums am Ostwall in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erfüllte. Das Haus, in das in Kürze das Baukunstarchiv NRW einziehen wird, erlebte in seiner im späten 19. Jahrhundert beginnenden Geschichte mehrere Umbauten; Reygers’ Eingriffe waren von der Idee geleitet, Alt und Neu in eine harmonische Einheit zu überführen. Ebenfalls aus dem späten 19. Jahrhunderts stammt das Rijksmuseum in Amsterdam, dessen Umbau Paul Meurs und Marie-Thérèse van Thoor als eine Geschichte des Ringens um die adäquate Lösung zum Umgang mit dem Bestand erzählen.

Die drei Themenblöcke dieses Heftes werden durch mehrseitige Bildstrecken voneinander getrennt, in denen Künstler ihre Sicht auf das Einfügen präsentieren: Alle hier gezeigten Werke entstanden als studentische Arbeiten im Rahmen von Seminaren. In der ehemaligen Aachener Tuchfabrik nahm Michael Schulze den Ort zum Anlass, um räumlichen Strukturen mit Fäden nachzuspüren, wobei beeindruckende Rauminstallationen entstanden sind. In Kassel belebten Timo Carl und Vanja Juric die Schaufenster von zwei verlassenen Geschäften mit Leuchtskulpturen, welche die Passanten zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem ungewohnten Gegenüber im Stadtraum motivieren sollen. Den Abschluss macht Tobias Becker, der die Stadtbewohner mit den von seinen Studenten entworfenen Modellen im Maßstab 1:1 mit kaum weniger irritierenden Eindringlingen im städtischen Raum und in Innenräumen konfrontiert hat.

Die Herausgeber möchten allen Autoren für ihre Arbeit und ihre Geduld danken, die sie im Zuge der Niederschrift und – nun endlich erfolgten – Veröffentlichung ihrer Beiträge aufbringen mussten. Den Gutachtern, die das Zustandekommen dieses Heftes kritisch begleitet haben und die mit ihrer Arbeit, ihren Anregungen und ihren Kommentaren maßgeblich daran beteiligt waren, dass es einem hohen Anspruch genügen kann, gilt unser ganz besonderer Dank.

Zuletzt sei noch der obligatorische, mit einer Hoffnung verbundene Schlusssatz eingefügt: archimaera wünscht eine anregende Lektüre!

Adria Daraban und Rainer Schützeichel
(Herausgeber des Heftes)

Volltext

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html abrufbar.

erstellt von Adria Daraban zuletzt verändert: 18.11.2019 13:20
Mitwirkende: Daraban, Adria, Schützeichel, Rainer
DPPL