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Grenzen - hart oder weich - 02

Von europäischer und japanischer Architektur

  1. Professor Dr. Manfred Speidel RWTH Aachen, Architekturfakultät, Institut für Kunstgeschichte

Zusammenfassung

Im Verhältnis des Hauses zu Garten und Landschaft, zu Straße und Stadt haben die haben die traditionelle japanische und die europäische Baukunst sehr verschiedene Strategien der Vermittlung, der Öffnung, Rahmung oder Wegeführung entwickelt. Tür und Schwelle, Fenster und Veranda sind Orte des Übergangs, die mit Mitteln der Architektur definiert und gedeutet werden. Ihre Gestaltung beruht auf kulturellen Praktiken für den Umgang von Menschen untereinander und mit der Natur. Die Ausgestaltung von Grenzen kann in diesem Sinne als architektonische Kultur eines Landes betrachtet werden. In ihrer Ausformulierung in harter und weicher Form repräsentieren Grenzen nicht allein soziale Konventionen, sondern erzeugen in der bewussten Öffnung von Aus- und Einblicken (oder in deren inszenierte Verweigerung) Situationen für schöpferische Momente der Kontemplation. Bis heute wirkt das Erbe der traditionellen japanischen Architektur in Entwürfen moderner japanischer Architekten fort.

Keywords

 

"Grenzen" sind die Form und Architektur gewordenen Entscheidungen einer Kultur. Sie sind Form gewordene Verhaltensgewohnheiten im Umgang der Menschen untereinander und im Umgang mit der Natur. Grenzen sind insofern ein Phänomen, das – wenn man es so beschreiben will – mit Herrschaftsstrukturen und deren Erhaltung zu tun hat. Man kann die Bau gewordene, künstlerische Ausbildung der Grenzen zu den Anderen und zum Klima als die architektonische Kultur eines Landes bezeichnen, in der ein Ausgleich zwischen sozialen und naturbedingten Konflikten mit Hilfe der Architektur, zumindest teilweise, gesucht und gefunden wird. Diese Kultur entsteht im Ausgleich zwischen den Bedürfnissen nach Schutz und Bequemlichkeit auf der einen Seite und dem Wunsch nach Austausch und Erlebnissen auf der anderen Seite.

Grenze als Ort, an dem Stimmungen entstehen.

Um das Wesen der Baukultur eines Landes und ihre fortdauernde Stimmung zu verdeutlichen, mag ein literarisches Beispiel helfen. Goethe hat diesen Zusammenhang um 1780 in einer parabelhaften "Legende" gefasst, die den Titel "Die verstummte Tonkunst" trägt. Die Erzählung beginnt mit der mythischen Gestalt des Orpheus. Durch die belebenden Töne seines Saitenspieles ordnen sich um einen wüsten Bauplatz die herbeieilenden Felssteine in rhythmischen Schichten zu Mauern und Wänden um den Marktplatz der Stadt; Straße fügt sich zu Straße an!

"An wohlschützenden Mauern wird’s auch nicht fehlen. Die Töne verhallen, aber die Harmonie bleibt. Die Bürger einer solchen Stadt wandeln und weben zwischen ewigen Melodien; der Geist kann nicht sinken, die Tätigkeit nicht einschlafen, das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres, und die Bürger am gemeinsten Tage fühlen sich in einem ideellen Zustand."

Die architektonischen Grenzen des Raumes, die auf diese erste Harmonie zurückgehen, sind Orte "höchsten sittlichen und religiösen Genusses. Man gewöhne sich, in Sankt Peter auf und ab zugehen, und man wird ein Analogon desjenigen empfinden, was wir auszusprechen gewagt."

"Dagegen in einer schlecht gebauten Stadt, wo der Zufall mit leidigem Besen die Häuser zusammenkehrte, lebt der Bürger unbewusst in der Wüste eines düstern Zustandes; als wenn er Dudelsack, Pfeifen und Schellentrommeln hörte und sich bereiten müsste, Bärentänzen und Affensprüngen beizuwohnen." [1]

Oben: "Die Bürger einer solchen Stadt wandeln und weben zwischen ewigen Melodien [...] die Bürger am gemeinsten Tage fühlen sich in einem ideellen Zustand."
Bernini-Kolonnaden, Petersplatz, Rom. Foto von roy.luck. Quelle: hier .
Unten: " [...] in einer schlecht gebauten Stadt [...] lebt der Bürger unbewusst in der Wüste eines düstern Zustandes; als wenn er Dudelsack, Pfeifen und Schellentrommeln hörte und sich bereiten müsste, Bärentänzen und Affensprüngen beizuwohnen."
Köln. Kommerz Hotel und Musical Dome am Breslauer Platz, Februar 2013. Foto von wwwuppertal. Quelle: hier .

Mit anderen Worten: die Formgesetze und Harmonien, welche die Ursache für Gestaltung von Mauern und Grenzen sind – oder eben ihr Fehlen – wirken auf den Betrachter zurück. Wenn wir reisen, erleben wir den Umgang mit solchen Abgrenzungen besonders aufmerksam. In der Architektur sind sie vor allem dort noch deutlich, wo nicht der Einsatz von Technik, wie Klimaanlagen weltweit alles gleichmachen.

Mein Beitrag geht diesem Zusammenhang nach, aber er hat nicht den Anspruch, eine umfassende Darstellung von Grenzen zu liefern. Es sollen einige Beispiele aus Europa mit Bauten in Japan verglichen werden. Diese Beispiele können Anregungen zum Beobachten geben, aber sie liefern kein umfassendes oder allgemein gültiges Bild.

Auflösen der Grenzen

Ich gebe zu Beginn zwei Beispiele, die man von der Bauaufgabe her nicht vergleichen kann, aber grundsätzliche Möglichkeiten vorführen, wie die Begrenzungen eines schützenden Bauwerks so gestaltet werden können, dass der Eindruck von Durchdringung und Offenheit entsteht.

Im spätbarocken Kirchenbau des Klosters Neresheim gestaltete Balthasar Neumann einen mehrschichtigen Übergang, der das "Drinnen" des Raumes – bei allen baulichen Beschränkungen – fast zu einem überdachten "Draußen" macht. Das Sonnenlicht greift tief in den Raum, ganz im Gegensatz zur mittelalterlichen farbverglasten Kathedrale. Die Außenwand des Kirchenraumes erscheint dünn und ist durch große hellverglaste Fenster großzügig durchbrochen. Das strahlend einfallende Sonnenlicht versetzt die aufgelöste, antike Säulenarchitektur im reflektierenden Weiß der Putze in Schwingung.

Bathasar Neumann (1687-1753), Klosterkirche Neresheim, 1747-1792. Fotos © Manfred Speidel.

Der japanische Baumeister Kengo Kuma (geb. 1954) hat für das kleine Hiroshige Museum in Bato (2000) einen ganz anderen Weg genutzt, um die Grenze von Innen und Außen zu durchbrechen. Das Sonnenlicht wird durch das traditionelle Mittel der Holzgitter gefiltert, das die gläserne Schale oben und seitlich umhüllt und so die Illusion des offenen, aber beschatteten Hauses bewahrt, das für Japan charakteristisch ist. Das Sonnenlicht wandert in schmalen Streifen über Wände und Fußboden.

Kengo Kuma. Hiroshige Museum, Bato 2000. Fotos © Manfred Speidel.

Gegensätze der Grenzbildung.

Diese Rückbesinnung auf eine japanische Art, die Außenwand auszubilden, ist umso mehr beachtenswert, als die ersten modernen Architekten Japans in den ersten Jahrzehnten des 20sten Jahrhunderts immer wieder versucht haben, eine abstrakte westliche Architektur – die weiße Schachtel mit Möbeln – durchzubilden, gleichzeitig aber gezwungen waren, der traditionellen japanischen Lebensform mit dem Wohnen auf den Tatami-Matten und ohne Möbel eine neuzeitliche Ausdrucksform zu geben. Sutemi Horiguchi (1895-1984) hat beim Haus Okada von 1934 deshalb zwei unterschiedliche Baukörper nebeneinander gesetzt: auf der einen Seite den hohen vollverglasten westlichen Wohnraum mit ebenerdigem Ausgang zum Garten, dessen Glaswand nur durch einen Vorhang verschleiert wird. Er hat an dieser Stelle – den Bildern der westlichen Moderne entsprechend – die Grenze zwischen dem Wohnraum und dem Garten minimiert.

Das fällt umsomehr auf, da er unmittelbar daneben einen Raum baute, der den Übergang zwischen Wohnzone und Garten auf traditionelle japanische Weise ausformulierte. Der Wohnraum besitzt einen erhöhten Fußboden und ein niedrigeres Vordach, das vor Blendung durch die starke Sonne schützt. Außerdem besteht die Möglichkeit, Papierschiebewände in die Fußbodenrillen einzuführen und zarte Bambusvorhänge anzubringen.

Sutemi Horiguchi (1895-1984). Haus Okada, 1934. Links der "japanische", rechts der "europäische" Teil des Hauses.

Der moderne Wohnraum dagegen scheint dem feuchtheißen Klima und dem blendenden Sonnenlicht gnadenlos ausgesetzt. Hier ist der Garten eine Fortsetzung des Innenraumes; der Boden des Wohnraumes liegt auf gleichem Niveau wie der Garten. Möchte man aber vom japanischen Wohnbereich aus den Garten betreten, so muss man zuerst Sandalen anziehen, die unter der kleinen Terrasse stehen. Nach japanischem Verständnis ist der Garten vor dem Wohnbereich ein Außenraum, der durch eine Niveaustufe eindeutig abgetrennt ist. Diese beiden Lösungen veranschaulichen grundverschiedene Verständnisse von der Grenze des Hauses zu seiner Umgebung. Sie stellen unterschiedliche Reaktionen auf Klima und Sonneneistrahlung dar. Ohne eine Synthese mit der Tradition, oder ohne eine aufwendige Klimaanlage lassen sich die Raum- und Grenzvorstellungen der westlichen Moderne im feuchtheißen Klima Japans aber nicht umsetzen.

Den unterschiedlichen Umgang mit dem Außenraum nach europäischer und nach japanischer Tradition können zwei weitere Beispiele aufzeigen: Die westliche Kultur erweitert ihre Wohnräume ins Freie, in die Sonne. Ein Beispiel, das ganz in dieser Tradition steht, ist ein Hof, den der Architekt Heinz Bienefeld (1926-1995), beim Umbau eines Bauernhauses in der Nähe von Bonn zum eigenen Wohnhaus, 1978, vor der großen Wohnhalle mit Mauern umschlossen hat. Die Verbindung von Gartenhof und Wohnraum erinnert an das antike Vorbild, das schon in den Häusern von Pompeji entgegentritt. Wir, im kühlen Norden, suchen die Sonne und setzen uns ihr aus, zumindest in den jahreszeitlichen Übergängen. Das Bedürfnis zum Sonnenbaden im Garten ist dabei auch eine Konsequenz des durch Mauern abgeschlossenen Hauses.

Links: Heinz Bienefeld (1926-1995). Eigenes Wohnhaus in der Nähe von Bonn, 1978. Innenhof.
Rechts: Blick in den begrünten Innenhof eines kleinen Kafeehauses in Tokyo.
Fotos © Manfred Speidel.

Der Japaner dagegen versteckt sich vor der Sonne – Sonnenbaden ist undenkbar – er muss das Haus im feuchtheißen Sommer völlig öffnen können und zieht sich in die durchlüfteten, schattenbedeckten Räume vor der Sonne zurück. Der Hof ist mit schattenspendenden Pflanzen bedeckt, ja, er kann bei den kleinen Höfen sogar vollkommen zugepflanzt sein, zum Beispiel mit Bambus, wie in diesem kleinen Kaffeehaus in Tokyo. Die Wärme der Sonne wird allerdings, wie etwa an dem abgebildeten Bauernhaus mit seiner äußeren breiten Veranda, an Wintertagen auch zum Sitzen und zum Arbeiten im Freien genützt.

Oben: Eduard Manet, Frühstück im Freien (Le déjeuner sur l'herbe), 1863. Paris, Musée d'Orsay.
Unten: Picknick in Japan unter den blühenden Kirschbäumen. Foto © Manfred Speidel.

Manets Gemälde Frühstück im Freien von 1863 verdeutlicht das westliche Bedürfnis nach einem Picknick im Wald. Waldboden und Bach sind in unserem "Wiesenklima" [2] zugänglich und benutzbar wie ein Park. Für Japaner ist der Wald eine unzugängliche Wildnis, in der man, versucht man sie zu betreten, unweigerlich stecken bleibt – eine Folge des feuchtheißen Monsunklimas. Das Picknick des Japaners findet traditionell nur unter den blühenden Kirschbäumen statt und nur auf festem Boden. Und er nimmt sein von den Nachbarn abgegrenztes Haus sozusagen auch nach draußen mit in der Form von blauen Plastikplanen. Vor diesem blauen "Boden" werden wie am Hauseingang die Schuhe abgelegt – die Plane ist ohne Einladung für Außenstehende nicht zu betreten. Nur die schmalen Zwischenwege zwischen den Planen sind "öffentlich". Bei uns ist es eher der gesamte Umraum, den wir mit Anderen teilen, während der private Bereich durch eine Decke von eher geringen Dimensionen auf dem Rasen markiert ist.

Die Grenze ein Ort der Regeln.

Der Ort der Begegnung am Haus ist die Tür, sozusagen die architektonische Begrüßung.

Wir geben uns die Hand, die Japaner verbeugen sich voreinander. Wenn man sich die Hand reicht, ist man sich nahe, man zeigt in der Berührung, dass man keine Waffen in der Hand hat. Die japanische Verbeugung geschieht in Distanz; man berührt sich nicht, man blickt sich nur leicht an, behält den Anderen im Auge. In diesem Abstand ist die Erinnerung an die Distanz des Schwertes präsent, das der Samurai immer bei sich trug und plötzlich ziehen konnte.

Der Handschlag ist hart wie eine Tür. Eine Tür schafft klare Verhältnisse, man ist draußen oder drinnen. Für den Zugang muss eine Tür durch vielerlei Vorrichtungen, durch Schlösser und Schlüssel, geöffnet werden. Hat sich die Tür geöffnet steht man unmittelbar im Haus. Daher der Späher in der Tür. Beim Schließen fällt die Tür ins Schloss.

Heinz Bienefeld (1926-1995). Links: Haus Kühnen, Kevelaer, 1988. Rechts: Haus Heinze-Manke, Rodenkirchen, 1984. Eingangssituationen. Fotos © Manfred Speidel.

Die japanische Verbeugung ist sanft wie eine Schiebetür. Ist jemand zu Hause, dann ist zum Zeichen die Türe einen Spalt aufgeschoben. Diese Grenze ist leicht und verletzlich. Im traditionellen Haus gibt es keine Klingel. Man schiebt die Türe auf und ruft "Guten Tag". Allerdings ist heute die feste, feuersichere Tür und die Klingel in allen neuen Häusern und den Wohnungen der Stadt die Regel.

Leicht aufgeschobene  Haustüre, Hasedera, Japan. Foto © Manfred Speidel.

In Japan zieht man den Übermantel vor der Haustüre aus. Erst auf dem Grundstück erfolgt dann die Begrüßung: der Besucher steht, sich knapp verbeugend, auf dem tiefer gelegenen Vorplatz des Hausinneren, die Hausfrau kniet auf der erhöhten Plattform über dem Vorplatz. Dann erst wird der Besucher die Schuhe abstellen und den höheren Holzboden betreten. Damit ist er im prinzipiell offenen Haus und wird ins Gästezimmer gebeten. Eine Parallele zu diesem mehrstufigen Zutrittsritual findet sich in den französischen Stadtpalais des 18. Jahrhunderts. Dort ist für einen Gast eine Raumfolge vorgesehen, die den direkten Zugang zum Gastgeber unterbindet, aber vermittelt: Es ist das Vorzimmer zwischen Vestibül und Empfangsraum. Diese Zimmer sind axial aufeinander bezogen. Das Vorzimmer, die "antichambre", ist als ein Ort berüchtigt, wo Intrigen geschmiedet werden, wo "antichambriert" wird. [3]

Die traditionelle Form, einen Gast zu begrüßen. Fotos © Manfred Speidel.

Eine Schwelle des Eintretens und des Übergangs, an der man die Schuhe aus- und wieder anzieht, gibt es an allen traditionellen japanischen Bauten, auch am Tempel. Ist die Türe, z. B. des Priesterhauses den ganzen Tag aufgeschoben, steht auf dem oberen Boden eine niedrige, bewegliche Schutzwand und verwehrt den direkten Einblick, allerdings nur symbolisch und nicht vollständig. Das erinnert an die chinesische "Geisterwand" – eine Wand, welche die direkte gerade Verbindung zwischen zwei Räumen versperrt, um Geistern, die sich nach diesem Glauben nur auf geraden Linien fortbewegen, den Zutritt zu verwehren.

Aufgeschobene Türen und "Geisterwand" an einem japanischen Tempel. Foto © Manfred Speidel.

Für einen Gast in einem traditionellen japanischen Palast oder Tempel kann das, was wir vielleicht Vestibül oder Vorraum für das Empfangszeremoniell nennen würden, räumlich noch ausgedehnter sein. Dieser erweiterte Empfangsbereich liegt dann im Gartenhof und nicht im eigentlichen Haus. Am Zentempel Koto-in aus dem 18. Jahrhundert in Kyoto hat der hohe Gast einen eigenen Zugang über den Vorgarten zu einem Gästetor des Tempels. Der direkte Weg zur großen Empfangshalle wird vom Tor unter einem überdachten Gang auf halber Strecke durch einen Wartepavillon mit einer Sitzbank unterbrochen. Der halboffene Pavillon besteht aus der Banknische mit Rundbogenfenster zum Empfangsbau hin; er wird übereck durch eine offene, außen angebaute Bank mit zierlichem Geländer ergänzt. Schiebt man das papierbespannte Rundbogenfenster des Pavillons auf, kann man einen Seitenblick auf den Hauptbau erhaschen. Der Abgeschlossenheit des Wartebereiches ist also nur angedeutet, sozusagen eine Geste. Der Weg zum Tempel führt anschließend links vom Pavillon abgewinkelt weiter. Der Hausherr kommt dem Gast bis zum Pavillon entgegen oder er schickt einen Boten.

Zentempel Koto-in, Kyoto. 18. Jahrhundert. Fotos © Manfred Speidel.

Der Wartepavillon ist der architektonische Ausdruck für das Vermeiden einer direkten Konfrontation, er ist räumliche Inszenierung der Sitte der indirekten Begegnung: eine eingeschobene, architektonische Höflichkeitsformel. Dieser bewusst inszenierte Zwischenbereich ist Raumfragment für das "zögernde Eintreten", das go-enryo. Diese Sitte ist letztendlich eine Konsequenz aus der Offenheit des japanischen Hauses. Hinzu kommt ein weiteres Element der Inszenierung, denn der kleine Wartebau lässt die Empfangshalle und den schattigen Haingarten davor umso größer und weiter erscheinen. Dieser mehrstufigen Ausgestaltung der Grenze entspricht an einem Vorstadthaus mit Garten beispielsweise das feine, gitterförmige Garten-Schiebetor zwischen den hohen Bambuswänden, die einen Einblick in den Garten verwehren. Hinter dem Gitter liegt ein abgewinkelter Weg, der zum Haupteingang führt, was durch eine Steinlaterne markiert ist. Den Eingang des Hauses kann man vom Tor noch nicht einsehen.

Oben: Eingangssituation an einem japanischen Vorstadthaus. Fotos © Manfred Speidel.
Unten: Peter Behrens, Haus auf der Darmstädter Mathildenhöhe, 1901. Fotos © Manfred Speidel.

Die ganz andere Kultur von Raumgrenzen in Westeuropa kann ein historisches Beispiel verdeutlichen: Peter Behrens' Haus auf der Darmstädter Mathildenhöhe von 1901. Hier sind Zäune und Tore als weitmaschigere Gitter ausgebildet, die einen unverstellten Einblick gewähren. Tor und Hauseingang sind achsial aufeinander bezogen. Am Gartentor ist der Zaun sogar niedriger. Dies ermöglicht aus dem Haus oder aus dem Garten einen direkten Blick auf Gäste oder Passanten und vice versa. Im Unterschied zu Japan sind die Blickbeziehungen von großer Direktheit. Dies hat einen ganz simplen Grund. Umwege oder Zwischenstationen als räumlich-kulturelle Barrieren beim Hinzutreten auf den Privatbereich des Hauses sind in diesem Fall nicht notwendig, denn Schloss und Riegel, feste Verschlüsse an den massiven Türen und evtl. ein Hund schaffen als andersartige Grenzen bereits genügend Sicherheit.

Die Grenze, ein Ort der Kontrolle und der Selbstdarstellung.

Betrachten wir nun kurz im Vergleich zwischen Japan und Europa das Haus im Verhältnis zur Stadt. Es hängt mit der Entwicklung der bürgerlichen Freiheiten in den europäischen Städten seit dem Mittelalter zusammen, dass Häuser in Europa die Straße, den öffentlichen Raum mit ihrem "Gesicht" – ihrer Fassade – unter Kontrolle nehmen und sich zur Schau stellen, wobei die besten Räume zur Straße und im oberen Geschoß liegen. Der Erker eines Hauses ist aus dieser Perspektive Beobachtungsposten und prunkvolle Ausstellungsvitrine, Auge und Maske zugleich. Von dieser Logik gibt es natürlich auch Ausnahmen: um keinen Neid zu erwecken verpflichteten sich die Patrizier in Nürnberg beispielsweise, ihre Prunkräume nicht an der Straße, sondern an einem Innenhof und dort im obersten Geschoß einzurichten.

Links: Erker an Bürgerhäusern in Rottweil, Hochbrücktorstraße. Foto von tm1sart. Quelle: hier. Rechts: Innenhof des Pellerhauses Nürnberg. Historische Aufnahme um 1900. Quelle: janwillemsen: hier.

In der japanischen Stadt waren die Ausgangsbedingungen grundsätzlich anders. Die Kaufleute und Handwerker in der Stadt, die seit dem 17. Jahrhundert als Schicht noch unterhalb der Samurai und der Bauern standen, besaßen nur wenig Freiheit für eine öffentliche Selbstdarstellung und mussten ihre Häuser deshalb introvertiert bauen. Städtische Häuser von Kaufleuten und Handwerkern besitzen keine eigentliche Fassade. Sie sind zur Straße hin nur lediglich durch Gitter gegliedert. Hinter den Gittern sind die Shoji Papierfenster oder Wände völlig zu öffnen, um Luft durchziehen zu lassen. Die Empfangsräume sind, wie beim Palast, nach hinten zum rückwärtigen Gartenhof gelegen. Zu öffentlichen Festzeiten konnten einzelne Räume zur Straße geöffnet werden. Der stolze Besitzer zeigte dann im geschmückten Raum, wertvolle Kunstwerke wie z. B. prachtvoll bemalte Faltwände. Die Prozessionen brachten den Segen der vorbeigetragenen Göttersänften auch diesen Häusern.

Links: Fassade eines traditionellen japanischen Kaufmannshauses. Rechts: Papier-Schiebewände und Bambusvorhang zum Innenhof. Fotos © Manfred Speidel.

Öffnung privater Häuser zur Straße zu öffentlichen Festzeiten. Fotos © Manfred Speidel.

Das Verhältnis zur Öffentlichkeit und zum Sakralen hat in Europa und in Japan grundlegend andere Ausprägungen erfahren. Wenn in der europäischen, dicht bebauten Stadt, wie z. B. in Straßburg, die Häuser bis dicht an das Münster heranreichen, so symbolisiert dies, dass der Sakralbau ein Teil der Kommune, ja ihr Höhepunkt ist. Das kommt auch in der perspektivischen Steigerung im Blick aus den engen Straßen auf den gewaltigen Bau hin zum Ausdruck. Vor dem Münster breitet sich ein Platz aus, der mit den Prachtbauten der Patrizier und der Zünfte deren Selbstbewusstsein jedermann vor Augen führt.

Links: Münster, Straßburg. Foto von Spiterman. Quelle: hier .
Rechts: Place de la Cathédrale, Strasbourg, Foto © Manfred Speidel.

In Japan waren bis in das späte 19. Jahrhundert Versammlungsorte oder öffentliche Plätze für Bürger und Händler nicht zugelassen. Sie erschienen als eine Gefahr für die Feudalherrschaft. Die Häuser oder Buden drängen sich eng, aber introvertiert bis an das Tempel- oder Schreintor heran. Dieses Tor ist eine Absperrung zum heiligen Bezirk. Einen Platz gibt es erst hinter dem Tor, im Tempelbezirk. Dort versammelt man sich; bei Festen werden dort Prachtwagen aufgebaut und rituelle Schauspiele aufgeführt.

Hachiman Schrein, Tokyo, Ogikubo. Oben: Blick von der Stadt aus gesehen.
Unten: Platz hinter dem Tempeltor. Fotos © Manfred Speidel.

Was wir beim mittelalterlichen Straßburger Münster gesehen haben, die gesteigerte Wirkung des großen Sakralbaus durch die Enge der umgebenden Stadt, scheint bis in die Gegenwart so selbstverständlich zu sein, dass auch ein moderner Bau wie das Kölner Ludwig Museum zum Dom hin diese Beziehung nachbildet.

Peter Busmann, Godfrid Haberer, Museum Ludwig, Köln, 1986. Foto © Manfred Speidel.

Die Ordnung des Raumes.

In einer Achse hintereinander aufgereihte Öffnungen in parallelen Mauern sind seit der Renaissance eine Möglichkeit, Raumbegrenzungen so zu durchbrechen, dass durchgehende Sichtlinien entstehen: sichtbare Verbindungen zwischen den Räumen untereinander und nach außen. Eingeführt wurde diese architektonische Inszenierung als Enfilade im päpstlichen Palast, um dem Auftritt der Hoheit eine eindrucksvolle Rahmung zu geben. Diese Enfiladen machen zugleich eine architektonische Raumordnung sichtbar; sie sind ein Mittel, "dem Beschauer zur räumlichen Anschauung" zu verhelfen. [4]

Links: Antichambre des bains de la Du Barry. Foto von Trizek. Quelle: hier .
Rechts: Enfilade, Hôtel de préfecture du Calvados à Caen. Le salon doré. Foto von Karldupart. Quelle: hier .

Auch heute noch ist das Motiv der Enfilade ein Inszenierungsmittel, das charakteristisch für den westlichen Umgang mit Grenzen ist. Der Architekt Heinz Bienefeld hat sein eigenes Wohnhaus, das bereits oben erwähnte Bauernhaus aus dem 19. Jahrhundert, durch solche Blickachsen ergänzt. Eine Achse beginnt an der Haustüre. Vom Hauseingang führt ein Mittelflur durch das Wohnhaus und über die anschließende Wohnhalle (den ehemaligen Stall) zum oben besprochenen Innenhof. Diese Sichtachse wird im Obergeschoß durch eine Öffnung aus dem Flur in die Wohnhalle fortgesetzt. Diese Achse erfährt sogar eine illusorische Erweiterung durch einen Spiegel, der das Fenster des Flures in Richtung Straße zeigt. Ein kleines Fenster rechts an der Stirnseite der Wohnhalle, also der Gegenseite zum Ausgang in den Hof, hat in der Hofmauer ein Gegenfenster in der gleichen Proportion, das einen Ausblick nach außen erlaubt.

Heinz Bienefeld (1926-1995). Eigenes Wohnhaus in der Nähe von Bonn, 1978. Haustür und Diele.
Fotos © Manfred Speidel.

Heinz Bienefeld (1926-1995). Eigenes Wohnhaus in der Nähe von Bonn, 1978. Diele und Wohnraum. Fotos © Manfred Speidel.

Diese Fenster und Achsen sind die Fühler durch das undurchdringlich erscheinende Steinhaus. Sie reagieren auf das Bedürfnis, die geschlossenen, zugemauerten Häuser unserer Tradition durchschaubar zu machen und über die Grenzen der Mauern hinaus geordnete Verbindungen mit der Außenwelt zu haben.

Heinz Bienefeld (1926-1995). Eigenes Wohnhaus in der Nähe von Bonn, 1978. Durchblick über den Innenhof hinaus. Foto © Manfred Speidel.

Ganz anders sind das Raumgefühl und die Raumanordnung einer japanischen Villa. Aus klimatischen Gründen ist dieser Bautyp nach außen traditionell nur durch dünne, verschiebbare Wände geschlossen. Die innere Organisation besteht seit dem 16. Jahrhundert aus einzelnen, hintereinander gestaffelten Hausabschnitten, die durch abgewinkelte Wege miteinander verbunden sind. Es sind die sogenannten Shoin-Bauten des Kriegeradels. Dieses Organisationsprinzip verdeutlicht die Villa Katsura aus dem 17. Jahrhundert. Einen direkten und geraden Durchgangsweg gibt es im Hause nicht. Am ersten Bau, dem Ko-Shoin, führt ein schmaler, langer Eingangsraum übereck zum großen Zimmer mit dem Gartenblick, an den sich der Hauptraum, wieder übereck, anschließt. Außenliegende Flure, engawa, führen der Übereck-Anordnung folgend an den Räumen vorbei, die untereinander nur durch verschieb- und herausnehmbare Wände getrennt sind. Nimmt man alle Wände heraus entsteht eine durchgehende Halle, die nur durch die fein vergitterten oder verputzten Wandstücke oberhalb des Führungsholzes der Schiebewände gegliedert ist. Alle Ordnungslinien sind zu einer dreidimensionalen Gitterstruktur aufgelöst. Eine gewisse Abgrenzung gewährt nur die Lage einer Raumzelle. Es gibt ein "Vorne" des Eintrittes und ein davon abgewandtes "Hinten" des "Privaten", verbunden durch übereck geführte Außenflure. Der hinterste Raum, der "privateste" wird "Erster Raum" genannt, der davorliegende "Zweiter Raum", der Zugangsraum "Dritter" in bezug zu ihrer Bedeutung, aber in Umkehrung zu ihrer Abfolge.

 

Villa Katsura, Kyoto. 17. Jahrhundert. Oben: Alt-Shoin. Blick vom zweiten in den ersten Raum mit Tokonoma-Nische, Foto 1928. Unten: Katsura: Grundriss. Alt-Shoin in den Garten (unten im Plan) vorspringender Bauteil, aus: Bruno Taut: Houses and People of Japan, 1936.

Die Grenze als Ort der Träumerei.

Brechen wir dieses Thema ab und sehen wir uns nun die Wandoberflächen an. Im japanischen Haus sind die äußeren Schiebewände leichte Holzgitter, die mit durchscheinendem, weißem Papier bespannt sind. Sie heißen Shoji. Anstatt Mauern mit Löchern haben wir leichteste, verschieb- und herausnehmbare Rahmen, die das tragende, sichtbare Holzskelett ausfüllen, das in seinen Dimensionen auf das Äußerste reduziert wirkt wie ein elegantes Stahlskelett. Am dritten Bau der Prinzenvilla Katsura von 1660 verlaufen die Shoji Wände über Eck. Das Gebäude wirkt wie eine große Laterne, die nach allen Seiten ein sanftes Licht ausbreitet.

Shoji in der Prinzenvilla Katsura, 1660. Veranda beim 1. Zimmer im Neuen Palast Oben: geschlossen. Foto © Eleanor von Erdberg. Mitte: geöffnet. Foto © Takeshi Nishikawa. Aus: Akira Naito: Katsura A Princely Retreat. Toyko 1977. Unten: Kopie des Neuen Shoin von Katsura mit Glasfenstern und Vorhang.

Das aufgespannte Papier aus Maulbeerbaumfasern vermag es, die Schatten der Bäume wie auf einem Tuschebild mit scharfen und verwischten Konturen abzubilden, die sich außen wie innen abzeichnen. Ein modernes Beispiel ist das Bild der Räume des kaiserlichen Gästebaus für das Ryokan Hasshokan in Nagoya von Sutemi Horiguchi aus dem Jahre 1950.

Links: Ryokan Hasshokan, Kaiserliches Gästehaus Sutemi Horiguchi, Nagoya, 1950. Rechts: Der Schatten von Kiefern auf einer Shoji-Wand.
Fotos © Manfred Speidel.

Links: Pompeji, Wandmalerei in der Casa della Caccia Antica.Wandmalerei im sogenannten "vierten Stil". 62-79 n. Chr.
Rechts: Wandmalerei in der Gartensaal Villa Farnesina, Rom. 1506–1511.
Fotos © Manfred Speidel.

Die an diesem Beispiel fassbare Relativierung der Raumgrenze ist kein Phänomen, das es nur in Japan gibt. Auch der europäische Mauerbau kann seine Oberfläche der Illusion ins Weite öffnen, mit Hilfe der Malerei. Im Gartensaal der Villa Farnesina in Rom, der nur wenige Fenster hat, täuscht eine Illusionsmalerei eine textile Fläche mit Vorhängen vor, über die hinweg man in die Ferne zu sehen glaubt. Das weite Themenfeld der Wandmalereien, die Blicke in Landschaften und Himmelsszenen öffnen, kann hier aber nicht weiter ausgeführt werden. Indessen gibt es noch weitere Strategien, den massiven Charakter von gemauerten Wänden zu relativieren. Bei modernen Bauten, wo die Materialien, wie Ziegelsteine selbst sprechen sollen, wird versucht durch Fugenausbildung, oder aber durch entsprechende Putze eine leicht wirkende Oberfläche zu gewinnen. Heinz Bienefeld etwa mischte Kalkputze mit Marmormehl nach römischen Rezepten und erreichte eine schimmernde, das Licht in feinen Abstufungen reflektierende, hautartige Wirkung der Oberfläche, und das, obgleich die Ziegelmauer unter der Schlemme in ihrer Unebenheit noch durchscheint. Im Gegenüber von polierter Marmorfläche und spiegelndem Glas gab Mies van der Rohe beim 1929 gebauten Barcelona Pavillon den massiven Mauerscheiben magisch-spiegelnde Durchsichtigkeit. Nochmals sei auch auf Kengo Kuma verwiesen, der an seinem Museumsbau mit feingliedrigen Gitterschichten über Glasflächen und mitdurchscheinenden Papierflächen eine "schwebende" Materialität erzielt. All diese Interventionen stellen Strategien dar, die Raumgrenzen in Orte der Illusion, wenn nicht gar Träumerei zu verwandeln.

Heinz Bienefeld (1926-1995). Eigenes Wohnhaus in der Nähe von Bonn, 1978. Giebel aus Ziegelmauerwerk, Kalkputz mit Marmormehl im Treppenhaus.

Links: Mies van der Rohe. Barcelona-Pavillon (Rekonstruktion).
Rechts: Kengo Kuma. Hiroshige Museum, Bato 2000. Fotos © Manfred Speidel.

Grenze als Ort der Sehnsucht.

Grenzen sind künstlerische Gelegenheiten, durch geschickte Ausbildung, wie z.B. durch eine Rahmung Größe oder Ferne als Vorstellung entstehen zu lassen. Im Schloss zu Weikersheim aus dem 18. Jahrhundert begrenzen zwei barocke Bauflügel einer Orangerie den Park wie Theaterkulissen und lassen einen Blick in die Flusslandschaft frei, der eine unendliche Ferne suggeriert. Der weite Ausblick wird durch den engen, architektonisch gerahmten Ausschnitt umso intensiver erlebbar.

Oben: Schloss zu Weikersheim, 18. Jahrhundert.
Unten: Ehem. Villa in Hirosaki, Blick auf den Vulkan Iwaki-san.
Fotos © Manfred Speidel.

Die japanische Gartenkunst arbeitet mit ähnlichen Methoden, jedoch mit Bäumen, nicht mit Bauten. Der Blick in die Ferne wird durch Bäume gerahmt, die unter bestimmten Lichtverhältnissen wie ausgeschnittene Silhouetten wirken können. Im Fall einer ehemals herrschaftlichen Villa in Hirosaki geht dieser gelenkte Blick auf einen wohlgeformten Vulkanberg, den Iwaki-san, ein Landschaftsheiligtum. Der Raum im oberen Geschoß des Hauses erzeugt einen ersten Rahmen. Aus der Perspektive des Innenraumes wirken die Baumsilhouette und der Vulkan fast flach, wie auf eine Leinwand projiziert. Der Berg erscheint dabei sehr groß, vergleichbar der groß wirkenden Mondscheibe am Horizont bei ihrem Aufgang. Im traditionellen Japan betrachtet man Landschaften sitzend auf dem Boden des offenen Raumes, nicht, indem man sich in die Natur selbst begibt. Das inszenierte Naturbild, das sich aus der Perspektive des Aussichtsfensters darstellt, ist ein ganz anderes als das, was sich von einem anderen Standpunkt aus bietet. Vom Gartenende aus gesehen scheint der Berg in der Weite der Landschaft zusammenzuschrumpfen.

Caspar David Friedrich, Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, 1819-1820. Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister.

Caspar David Friedrich malte häufig den gerahmten Blick durch Bäume in die Ferne. Der Vordergrund ist jedoch als räumliche Tiefe konstruiert und nicht als Bilderrahmen. Ebenso die Bäume und die Männer im Mittelgrund. Der Mond zwischen den Bäumen, auf den die zwei Personen andächtig blicken, erhält damit einen großen Abstand; er wirkt klein und steht in einer kosmischen, unermesslichen Ferne, im Verhältnis zur irdischen, messbaren Nähe des Vordergrundes.

Entsuji-Tempel, Kyoto, 17. Jahrhundert. Landschaftsausblick auf den Hiei-Berg zwischen gitterartig gepflanzten Bäumen. Foto von iwok_ktr. Quelle: hier .

In Japan – wie übrigens auch in der chinesischen Gartenkunst – nennt man den gerahmten Fernblick eine "geborgte Landschaft", shakkei; es ist gewissermaßen die Projektion einer Bergsilhouette hinter das Gartenpanorama. Ein berühmtes Beispiel in Japan ist der Blick auf den Hiei-Berg in Kyoto vom Tempel Entsuji aus, der einen kleinen Steingarten aus dem 17. Jahrhundert als Vordergrund darbietet. Der Steingarten, niedrige, gerade geschnittene Hecken und eine Reihe von Bäumen, die unten ganz freigeschnitten sind und oben üppiges Blattwerk besitzen, bilden die gitterartige Projektionsfläche für den Berg. Das Landschaftsbild wirkt wie auf einem gemalten Wandschirm. Die wie Schichten hintereinander liegenden Bildebenen machen es unmöglich, die Distanzen abzuschätzen. Der Berg wirkt groß, gibt seine wahre Größe aber nicht preis. Die Vorstellung von Weite und Tiefe erwächst aus eben dieser Spannung der Unbestimmtheit.

Teeraum des Kohoan-Tempels, Mitte des 17. Jahrhundert. Fotos © Manfred Speidel.

Wir finden in Japan auch Beispiele, wo der Ausblick nicht gerahmt und damit betont, sondern verdeckt, oder nahezu verdeckt wird. Am Teeraum des Kohoan Tempels aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, versperrt eine Hecke den freien Blick in den Garten. Nach oben wird der Ausblick durch eine hängende Papierschiebewand gerahmt, die das Sonnenlicht aus Westen abschirmen soll. Steinlaterne und Wasserbecken, zwei Gegenstände, die zum Reinigungsritual der Teezeremonie gehören, sind die zwei plastischen Objekte in dem verbleibenden, sonst fast flachen Bilde, vor dem Hintergrund der Hecke, die wie ein Stück Stellwand aber nicht die gesamte Außenwand verschließt. Der Teeraum soll in sich ruhend erscheinen, also eigentlich keinen Ausblick haben. Die Andeutung eines weiten Gartenraumes sowie der fragmentarische Fernblick im Ausschnitt links und rechts des Heckenstückes erzeugen im Betrachter jene Spannung, die man in Japan als unerfüllte Sehnsucht versteht.

Sicherlich haben die Japaner die künstlerischen Mittel – Rahmung eines Bildes, Inszenierung des Fragments im Ausschnitt, Überlagerung von Künstlichem mit Natürlichem – mit China gemeinsam. In China finden wir aufwendigere Formen, etwa den gerahmten Blick durch ornamentale Öffnungen, in die ein zweiter Rahmen mit plastischen Stillleben schwebend eingespannt ist. Diese Inszenierung im chinesischen Garten von Souchou, erreicht, dass der natürliche Hintergrund eines Haines wie der Malgrund für das plastische Kunstbild wirkt. Im Jugendstil hat man diese Art gerahmten Bildes wohl über die chinesische Gartenkunst entdeckt. Bei Frank Lloyd Wright finden wir dieses Motiv am Meyer May House in Grand Rapids aus dem Jahre 1905.

Oben: Gerahmter Blick in einem chinesischen Garten in Souchou. Foto © Manfred Speidel.
Unten: Frank Lloyd Wright, Meyer S. May House in Grand Rapids, 1908. Foto von chicagogeek. Quelle: hier.

Aber noch einmal zurück zu Japan. Der rückwärtige Eckraum des Daisen-in Zen-Tempels aus dem frühen 16. Jahrhundert mit einem engen, aber großartigen Steingarten, hat zwei unterschiedlich große und unterschiedlich proportionierte Wandöffnungen übereck. Die Rückwand bildet eine in der Höhe begrenzte Nische, die geöffnet werden kann. Sie rahmt einen Ausblick in den Garten, auf eine kleine Kiefer und einen Stein. Die rechte Seitenwand ist in voller Höhe zu öffnen und lenkt den Blick auf die großplastische Steinkomposition in der Ecke. Natürlich gehen die beiden Gartenteile direkt ineinander über, aber durch die unterschiedliche Rahmung erscheinen sie wie zwei völlig verschiedene Gärten. Das Nebeneinander der Eindrücke von gerahmtem, flach wirkendem und offenem, dreidimensionalem Bild, wird lediglich durch den Kunstgriff der unterschiedlichen Größe der Öffnungen übereck erreicht. Man glaubt in unterschiedliche Landschaften zu blicken.

Oben: Daisen-in Zen-Tempel, frühes 16. Jahrhundert.
Unten: Tadao Ando, Wohnhaus Koshino, 1981.
Fotos © Manfred Speidel.

Tadao Ando hat am Wohnhaus Koshino (1981) das Spiel mit zwei unterschiedlich großen Öffnungen übereck und nur einem schmalen Wandstück dazwischen vielleicht von diesem kleinen Tempelraum abgeschaut. Die kleinere Öffnung wirkt wie ein "Loch" in der Wand und dient als Rahmen für Ausblick auf den von links nach rechts abfallenden, weich geformten Hügel. Der Boden des Zimmers ist dem Garten gegenüber leicht erhöht, so dass eine zweidimensionale Figur im Ausschnitt erscheint. Hinter der großen Glasscheibe rechts führt der Blick auf den Gartenboden und die Außenwand des Schlaftraktes und zeigt dem Blick die Tiefe eines dreidimensionalen Raumes. Eine Wand kann in der japanischen Architektur, das sollen die Beispiele zeigen, im Kontrast zur der Skelettstruktur ein Kunstwerk der Be- und Entgrenzung entstehen lassen, auch wenn die Wand selbst nicht weiter gestaltet wurde. Die Grenze wird zu einem Ort der "Sehnsucht" und der "Imagination".

Jikkô-in. Raumgrenzen des japanischen Hauses: erhöhter Mattenboden und schützendes Dach. Foto © Manfred Speidel.

Grenze ein Ort des Schöpferischen.

Die beiden horizontalen Raumgrenzen des japanischen Wohnhauses, der erhöhte Mattenboden, wie das schützende, weit ausladende Dach, die sowohl den Gartenboden wie die Wipfel der Bäume dem Blick entziehen, lassen den Japaner aus seinem offenen Raum die Natur durchaus direkt erleben: aber er sieht nur einen Ausschnitt von ihr und berührt mit seinem Körper weder das Gras noch die Bäume, zwischen die wir uns in unserem Wiesenklima getrost setzen können. Er erlebt ihre Wirkung, ihr Bild, das Licht und die Luft, die Hitze und die Kälte.

Die Offenheit des japanischen Hauses und die physische Unbestimmtheit seiner Grenzen ist nirgends schöner ausgedrückt als im Haiku das Basho-Schülers Kikaku aus dem Jahre 1691:

Vollmondabend
auf den Matten
der Schatten der Kiefer.

Den Mond sieht der Betrachter nicht, vielleicht auch nicht die Kiefer, nur den Schatten, der sich auf den Bodenmatten des Tatami-Bodens abzeichnet. Die entgrenzte Grenze führt den Dichter zur unsentimentalen, poetischen Durchdringung von Haus und Natur.



[1] Johann Wolfgang Goethe: "Die verstummte Tonkunst". In: Fritz Schumacher. Lesebuch für Baumeister. Berlin 1941, S.74-75. Wieder in: Ders. Bauwelt Fundamente 49. Braunschweig 1978.

[2] Der Begriff ist von Watsuji Tetsuro übernommen, Fudo, Wind und Erde. Der Zusammenhang von Klima und Kultur. Darmstadt 1997.

[3] Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1983.

[4] Friedrich Ostendorf: Sechs Bücher vom Bauen. Berlin, 1918, S. X.

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erstellt von Manfred Speidel zuletzt verändert: 18.11.2019 13:20
Mitwirkende: Speidel, Manfred
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