Benutzerspezifische Werkzeuge
Artikelaktionen

 

Providurien

Es ist nicht bekannt, welches Vielfache seiner ursprünglich angepeilten Lebensdauer ein Provisorium erreichen muss, um ein Providurium zu werden. Aber es ist bekannt, dass in der Schweiz im Allgemeinen - und in Zürich im Speziellen - zahlreiche Exemplare dieser Gattung stehen, was vielleicht auch in der Schweizer Mentalität begründet sein könnte: Drängenden Fragen begegnet man in einer eigentümlichen Kultur des Verweigerns definitiver Entscheide lieber mit Übergangslösungen, was allerdings nicht immer nachteilig sein muss. So bewahrte die typisch schweizerische Trägheit und Skepsis gegenüber "großen Ideen" das Land weitgehend vor unüberlegten städtebaulichen Kahlschlägen oder seelenlosen Satellitenstädten. Das prominenteste Providurium des Landes dürfte wohl das nach einer Warenhauskette benannte Globusprovisorium sein, welches seit genau fünfzig Jahren direkt beim Hauptbahnhof an - oder vielmehr in - der Limmat steht.

Abb. 1: Das fünfzig Jahre alte Globusprovisorium in Zürichs Innenstadt. Foto: wikimedia.org.

Bereits bei der Projektierung dieser Übergangslösung wurde ihr Abriss im Jahr 1968 festgelegt, aber mittels einer Volksabstimmung ließ sich ein Aufschub auf unbestimmte Zeit erwirken. Das vom bekannten Zürcher Architekten Karl Egender geplante Haus blieb stehen und sollte schließlich sogar zum Namensgeber der sogenannten Globuskravalle werden, die im Zuge der europaweiten 68er-Jugendrevolten direkt davor stattfanden. Nach dem Wegzug seiner ursprünglichen Mieter beherbergte es bis zum heutigen Tag eine Reihe verschiedenster Nutzer. So hatte bis 1977 auch die Architekturabteilung der ETH ihr Gastspiel in diesen Räumen und organisierte dort beispielsweise 1972, anlässlich des Beginns seiner Zürcher Lehrtätigkeit, eine vielbeachtete Ausstellung über Aldo Rossi.

Schulbaracken

Ähnlich langlebig sind auch einige der Schulhausprovisorien, die seit gut hundert Jahren in Zürich errichtet werden: Schon in der Gründerzeit suchte man nach schnell realisier- und finanzierbaren Lösungen, um dem mit explodierenden Bevölkerungszahlen einhergehenden Mangel an Schulen rasch begegnen zu können, und so erstellte man über das Stadtgebiet verstreut ein gutes Duzend vorfabrizierter Holzelementbauten. Heute stehen noch mindestens drei Exemplare – ein denkmalgeschütztes Exemplar an der Neumünsterstraße, eine mit einer Verkleidung aus hautfarbenen Faserzementplatten verunstaltete Version beim Ämtlerschulhaus sowie die Xenix-Baracke, auf deren Geschichte später ausführlich eingegangen werden soll.

Abb. 2: Das im Originalzustand erhaltene Provisorium an der Neumünsterstrasse. Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich.

Abb. 3: Exemplar beim Ämtlerschulhaus: Foto: Martin Saarinen.

1904 waren diese sogenannten "Pavillonbauten" allerdings noch alles andere als üblich, wie der Stadtratsbeschluss, "sich der eigenartigen Bauart zu bedienen", verdeutlicht. Bald darauf erklärt die Zürcher Wochenchronik am 12. November 1904: "Sämtliche drei Baracken wurden fix und fertig aus Deutschland bezogen, nur die nötigen Tiefbauarbeiten, wie Fundamente, Kanalisation etc., wurden durch hiesige Baugeschäfte durchgeführt." Wie in Jan Capols Text "Die Xenix-Baracke – Ein Produkt der exakten Wissenschaft" im Buch Xenix – Kino als Programm nachzulesen ist, sei der Stadtrat nach Fertigstellung der ersten drei Schulbaracken begeistert gewesen: "Grundgedanke dieser Bauart ist die vollständige Zerlegbarkeit der Böden, der Wände und des Daches, so dass das Bauwerk in der gleichen Form und Größe ohne Stoffverlust mehrmals abgebrochen und an einem anderen Orte wieder aufgerichtet werden kann. Die Abnutzung soll so gering sein, dass die Baracken fünfzig Jahre gebraucht werden können." Tatsächlich war das "System Brümmer" der in Köln ansässigen Deutschen Barackenbau-Gesellschaft GmbH ein äußerst durchdachtes und universell anwendbares modulares Bausystem, dessen Effizienz später auch im Dienste der NS-Tötungsindustrie missbraucht werden sollte.

Abb. 4: Zeitungsreklame für das universell anwendbare Brümmer-System.

Die Tradition des Schulprovisorienbaus lebt übrigens bis heute in der mittlerweile dritten Provisoriumsgeneration weiter: Dreißig Exemplare des Typs "Züri-Modular" bevölkern heute die Außenanlagen der scheinbar systematisch unterdimensionierten Zürcher Schulbauten.

Abb. 5: "Züri-Modular", Schulhauproviorien der dritten Generation. Foto: Martin Saarinen.

Der Filmclub Xenix

Jan Capol zufolge hatte der Stadtrat die Gebrauchszeit auf eine sogenanntes "Definitivuum" von neun Jahren festgelegt, doch auch in der bereits erwähnten Xenix-Baracke kam es anders: Sie blieb stehen und fand, nachdem der Schulraumbedarf anderweitig komfortabler befriedigt wurde, unter anderem Verwendung als Lager, Kindergarten, Jugendstube der Sozialistischen Arbeiterjugend, bis sie 1984, leerstehend, von Filmenthusiasten besetzt wurde. Diese hatten zuvor an verschiedenen anderen Lokalitäten in der Stadt versucht, die Idee eines Kinos abseits des Mainstreams zu realisieren, leider ohne Aussicht auf eine längerfristige Lösung. Die zwei Schulzimmer der einbündigen Baracke wurden zum Kinosaal vereint, das Lehrerzimmer zum Projektionsraum umfunktioniert und der drei Meter breite Korridor zur möglicherweise längsten und definitiv schmalsten Bar der Stadt. Diese erwies sich durch die exzellente Lage auf einem Kiesplatz, der sich auch noch für Open-Air-Kinovorführungen nutzen lässt, als veritable Cashcow. Denn ohne Bar kein Xenix - nur durch die Überschüsse aus der Gastronomie ließ sich das "aufwändigste Kino der Schweiz" finanzieren.

Abb. 6: Die Xenix-Baracke in ihrem mutmaßlichen Ursprungszustand, sowie zu Kino und Bar umfunktioniert – vor und nach der Erweiterung.

Konsolidierung

Es gelang, die zuständigen Behörden vom ursprünglichen Plan, die Baracke künftig als Polizeiwache zu verwenden abzubringen, und man ließ die "Xenixen" (das schweizerdeutsche "gseh nix!" bedeutet paradoxerweise "ich sehe nichts!") fortan gewähren. Dieser Entscheid war auch nicht ganz uneigennützig, weil durch den neu etablierten Kino- und Barbetrieb eine Aufwertung des gesamten Gevierts stattfand, welches - in unmittelbarer Nähe zur berüchtigten Langstraße – zuvor wohl über ein erträgliches Maß hinaus von Junkies, Drogendealern und Prostituierten bevölkert wurde. Die folgenden Jahre wurden durch einen Professionalisierungsprozess geprägt: Dreißig Voll- oder Teilzeitstellen wurden geschaffen und schrittweise auch bauliche Optimierungen vorgenommen. Das Xenix etablierte sich als ambitionierter Kinobetrieb und auch von offiziellen Stellen wurde allmählich der verdiente Respekt in Form von Bezuschussungen zuteil. Abertausende Filmliebhaber waren da, Filmgrößen - vor oder hinter der Kamera - waren da, buddhistische Mönche und die Knef waren da. Und mittlerweile brachte die bunte Truppe der Filmverrückten auch eigene Filmschaffende, wie beispielsweise die Regisseure Luc Schaedler oder Samir hervor.

Abb. 7: Das "Sofakino" nach dem Umbau. Foto: Hannes Henz.

Der Barbetrieb wurde weiterentwickelt und stieß, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass man an lauen Sommerabenden bis zu tausend durstige Gäste auf dem Kiesplatz zählte, an seine räumlichen Grenzen. So wurden mehr oder weniger behelfsmäßige Anbauten für Kühlräume oder Leergut angegliedert, die sich mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit unter dem Baumdach einer mächtigen Kastanie duckten.

Handlungsbedarf

Dieses Laisser-faire funktionierte über zwanzig Jahre lang reibungslos, doch allmählich wurde die Forderung laut, dass man die Gesamtanlage, bestehend aus Baracke und Anbauten (diese waren selbstverständlich nicht bewilligt) doch in ordentliche Verhältnisse überführen sollte. Wohl nur der Kombination aus typisch schweizerisch ausgeprägtem Rechtsempfinden (so lange es nicht Bankgeschäfte betrifft), der Liebe zu Sauberkeit und Ordnung sowie ausreichenden finanziellen Mitteln ist es zu verdanken, dass schließlich der erstaunliche Beschluss gefällt wurde, dass die Baracke (mit einem geschätzten materiellen Wert eines sehr kleinen Kleinwagens) für eine nicht unerhebliche Summe umgebaut und erweitert werden sollte. Im gleichen Zug sollten betriebliche Verbesserungen erzielt und durch mehr Nutzfläche und eine höhere Attraktivität auch größere zukünftige Einnahmen möglich werden. Das baurechtliche Korsett war allerdings eng, weil die Baracke in einer sogenannten Freihaltezone steht, wodurch eine Ausbreitung bei Erhaltung der Ursprungsnutzung um gerade mal einen Drittel der Grundfläche zulässig ist. Die Freihaltzone schützt in ländlichen Gebieten beispielsweise durch Bauernhäuser geprägte Ensembles vor viel voluminöseren Neubauten. Dass eine solche Zone mitten im Zürich zu finden ist, erklärt sich wahrscheinlich durch eine Verlegenheit bezüglich einer zukünftigen Entwicklung des Quartiers. Die Freihaltezone ermöglicht also bescheidene bauliche Maßnahmen unter Verhinderung größerer baulicher Eingriffe.

Lampenfieber

So führte das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich ein sogenanntes Planerwahlverfahren mit drei eingeladenen Architekturbüros durch, die auf gerade mal einem A3-Blatt einen skizzenhaft baulichen Eingriff vorschlagen sollten. Dieses Verfahren erlaubt es der Stadt, auch unbekannte Architekten im Sinne einer Nachwuchsförderung einzuladen, und so sah sich der Verfasser unverhofft vor der Aufgabe, das Xenix, das er wie die meisten Zürcher Kulturinteressierten gut kannte, um einen Drittel (selbstverständlich zeitgemäßen bauphysikalischen Normen entsprechend) zu erweitern. Dies sollte sich als große Herausforderung herausstellen, weil die filigrane Struktur des Bestandes (die Fassadenpaneele sind beispielsweise nur sechs Zentimeter stark) auf keinen Fall durch einen verhältnismäßig klobigen Anbau konkurriert werden sollte. Ein selbstverständliches Weiterbauen in Längsrichtung wurde durch eine geschützte Rosskastanie verunmöglicht, und auch die Höhe des bestehenden Giebels machte für die Nutzung der Erweiterung, die nebst den zu ersetzenden Kühl- und Lagerräumen auch eine verlängerte Bar, eine kleine Küche sowie sanitäre Anlagen aufnehmen sollte, wenig Sinn.

Abb. 8: Formgenese der Erweiterung: Ein Abknicken ermöglicht den Erhalt der Rosskastanie, durch ein platzseitiges "Aufbrechen" entstehen neue Qualitäten, wie eine neue, großzügige Eingangssituation zur Bar sowie ein dreieckiges Vordach.

Konkretisierung

Es gelang, das Entscheidungsgremium mit der Behauptung zu gewinnen, dass ein - bedingt durch funktionale Anforderungen sowie der Lage des Baumes - formal fremdartiger Fortsatz des Bestandes dennoch überzeugen könnte, wenn alle verfügbaren entwerferischen Mittel zu Gunsten einer neuen Einheit aus Alt und Neu eingesetzt würden.

Abb. 9, 10: Platzfassade vor und nach dem Umbau: Der große Öffnungsflügel erlaubt es den bis zu tausend durstigen Gästen an lauen Sommerabenden schnell zu ihrem Bier zu gelangen. Foto: Martin Saarinen, Hannes Henz.

Obwohl die Xenix-Baracke im Gegensatz zu ihrer Schwester an der Neumünstergasse nicht im Inventar der geschützten Bauten aufgeführt ist, wurde die Denkmalpflege in die Entscheidungsprozesse integriert. Glücklicherweise war ein Abweichen vom leider immer noch weitverbreiteten denkmalpflegerischen Dogma einer anzustrebenden Alt-Neu-Dialektik möglich und so konnte man die Detaillierung der Konstruktion ganz in den Dienst einer Verwischung bzw. Überspielung der Grenze zwischen Bestand und Neubau stellen.

Abb. 11, 12: Rückfassade: Die Feingliedrigkeit des Bestandes wurde in der Erweiterung uminterpretiert. Foto: Martin Saarinen, Hannes Henz.

Auf stofflicher Ebene zwang das Konzept der Einheitlichkeit allerdings auch zu Lösungen, die von den Entwerfenden sonst nie in Betracht gezogen worden wären: Die etwas altbackene Art der Fügung sowie eine Anlehnung der Maßstäblichkeit an den Bestand führte zu Wandtäfelungen, unzähligen Leisten und Profilen, wobei der Entscheid, nichttragende "Zierbalken" an den Rohbau des Neuen Daches zu kleben wohl den Höhepunkt einer mühevollen und voller Zweifel geprägten Auseinandersetzung darstellte.

Abb. 13, 14: Die erweiterte Bar ist die auffälligste innenräumliche Neuerung. Die Fächerung der Balken ist äußerst untypisch und ein kleiner Verweis auf deren dekorative Funktion. Foto: Martin Saarinen, Hannes Henz.

Bis zum Abend der Wiedereröffnung war nicht klar, ob die neue alte Baracke durch die Bevölkerung angenommen würde. Denn trotz der Idee, die Atmosphäre des Bestandes zu bewahren, wurden beispielsweise nahezu alle gebäudetechnischen Installationen, die erneuert werden mussten, zum Verschwinden gebracht, damit die Balkenstruktur der Decke ihre volle Wirkung entfaltet. Dass durch solche Maßnahmen auch ein Teil des "Charme des Improvisierten" eliminiert würde war ein Risiko, auf das man zu Gunsten einer prägnanteren Raumwirkung einzugehen bereit war.

Interaktionen

Glücklicherweise war die Akzeptanz sowohl bei Gästen und Personal überaus positiv, und auch die erhofften Mehreinnahmen blieben nicht aus. Was den Architekten allerdings erst später bewusst werden sollte, ist die Veränderung, welche die Baracke ihrerseits in ihnen bewirkt hatte. Nachdem ihr Denken maßgeblich vom Schweizer Mainstream geprägt wurde, wonach Abstraktion, Fugenlosigkeit oder Scharfkantigkeit per se erstrebenswert sei, sensibilisierte die tagtägliche Auseinandersetzung mit der Baracke für tektonische Phänomene, und bis zum heutigen Tag, bald fünf Jahre nach der Fertigstellung, übt das Provisorium immer noch einen gewichtigen Einfluss im Denken und im Werk des Verfassers aus. Augenfälligstes Beispiel dürfte der Umbau des Pfarreihauses St. Josef in Zürich sein, wo ein neues Foyer in den zufälligerweise ebenfalls auf den 1904 datierenden Bestand eingeschrieben wurde. Rückblickend scheint es, als ob die Baracke wie ein Fetisch seine Macht auf meine Kollegen und mich ausgeübt hätte - wie sonst ist zu erklären, dass die Täfelung, der Holzriemenboden, die Fügung der Bekleidungen und selbst der Handlauf entlang der kleinen Treppe zur oberen Foyer-Ebene augenscheinlich vom Xenix abgeleitet sind, obwohl nichts im Bestand eine solche Ausformulierung nahegelegte?

Abb. 15: Die Architektur des Schulprovisoriums wurde zum prägenden Element für den Entwurf eines neuen Pfarreihaus-Foyers. Foto: Nicolaj Bechtel & Stefan Wülser.

Zwang die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Baracke zu einer Feingliedrigkeit, so war es im Pfarreihaus der freie Wille, ein tektonisches Wand- und Deckenkleid zu entwickeln, welches in seinem scheinbaren Anachronismus einen spannungsvollen Gegensatz zu der facettierten Form entwickelt. So wurde die Permanenz des Schulhausprovisoriums und späteren Kinos um eine neue Dimension erweitert: Vor mehr als hundert Jahren als behelfsmäßige Notlösung für den Mangel an Schulräumen errichtet, wurde die Baracke erstaunlicherweise nun sogar zur Referenz für den Umbau eines altehrwürdigen katholischen Pfarreihauses.

Literatur:

Beat Schneider (Hg.): Xenix – Kino als Programm. Marburg 2005.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html abrufbar.

Volltext

erstellt von DiPP Admin zuletzt verändert: 28.01.2012 00:43