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    "Neuartige Baukörper – Geschenke der Technik.
     Sie verändern die Stadt und die Lebensbedingungen der Menschen."[1]
     Le Corbusier

 

Wer als Architekt darüber nachdenkt, was er über Le Corbusiers unités d'habitation weiß, wird mehr oder weniger zwangsläufig auf die folgenden Vorstellungen kommen: das Wohnhochhaus als langgestreckte Scheibe - aufgeständert auf Pfeiler - umgeben von Parklandschaften, die Konstruktion als Flächentragwerk aus Betonschotten, Standardisierung als Grundlage von Effizienz, das Flachdach als Skulpturengarten und Freifläche.

— Nichts von dem findet sich auf den Bildern von Christof Klute.

Christof Klute bereiste zwischen 2002 und 2004 mehrfach die fünf zwischen 1947 und 1967 errichteten "Wohneinheiten" Le Corbusiers in Marseille, Rezé-les-Nantes, Berlin, Briey en Forêt und Firminy-Vert. Le Corbusier war der Ãœberzeugung, dass Häusern dieses Typs als "vertikalen Gartenstädten" die Zukunft gehören würde. Als Folge der Industrialisierung im Bauwesen rechnete er damit, dass seine unités d'habitation bald in großen Stückzahlen in Serie gebaut würden. Allein für ein Städtebauprojekt in Meaux, das niemals realisiert werden sollte, erwartete Le Corbusier 1957 den Bau von fünfzehn Einheiten. [2]

Gebaut wurden in ganz Europa schließlich fünf der vertikalen Wohnscheiben. Sie sind Prototypen und Anschauungsobjekt für eine Vision vom Wohnen, die in dieser Form dann doch nicht zu einem neuen Standard wurde. Jede der realisierten unités war als autonome Einheit gedacht, die man selbst zum Einkaufen nicht verlassen musste, da ein eigener Laden für die Bedürfnisse der Bewohner bereitstand. Die geplante Bewohnerzahl war beträchtlich. Le Corbusiers unités zählen zwischen 294 (Nantes) und 557 (Berlin) Wohnungen. Aufzüge, Müllschlucker und damals moderne Heizungs-, Elektro- und Lüftungssysteme rundeten das System ab.

Als Grundlage der beabsichtigten effizienten Produktionsweise betrachtete Le Corbusier das von ihm entwickelte Maßsystem des Modulor, das aus der Größe eines (damals) überdurchschnittlich großen Mannes von 1,83 m abgeleitet war. In allen Abmessungen kam das System zur Anwendung. Le Corbusier ermittelte auf dieser Grundlage beispielsweise eine Raumhöhe von 2,26 m als Festmaß für sämtliche Appartements. Die Wohnungen waren so proportioniert, dass sie auf minimaler Grundfläche ein Maximum von Funktionalität vereinen sollten. Ein Mensch nach dem Maß des Modulor von 1,83 m Körpergröße sollte mit ausgestrecktem Arm noch eben die Decke berühren können; mehr erschien unnötig. Le Corbusier reagierte nachhaltig verärgert, als er für seine Berliner unité aufgrund der örtlichen Bauvorschriften eine Höhe von 2,50 m in Kauf nehmen musste.

Klutes Bilder aus dem Inneren der Wohneinheiten bilden wenig von dem reformatorisch-modernen Anspruch ab, den die Architektur Le Corbusiers in den ersten Nachkriegsjahrzehnten besaß. Nicht Effizienz oder Funktionalität, sondern Farbe, Lichtstimmungen und die gealterte Materialität von Oberflächen sprechen aus den Aufnahmen. Anfang des neuen Jahrhunderts sind Le Corbusiers unités mittlerweile Altbauten mit einer fünfzigjährigen Vergangenheit. Ihre Nutzungsgeschichte wird in einer Vielzahl von Details im Mangel an Perfektion ablesbar: in den über Jahre polierten Linoliumböden, fleckigen Steinfliesen, abgenutzten Wandsockeln oder nachträglich verlegten Elektroleitungen.

Nicht die Rationalität der Serie, sondern typologisch ähnliche, aber je individuelle Züge treten in den Aufnahmen hervor. Le Corbusiers Architektur verliert an absolutem Vorbildcharakter und gewinnt an Menschlichkeit. Zwar sind die Bilder menschenleer, aber die Spuren der Bewohner zeigen sich in pragmatischen Details: eine schräg eingesetzte Steckdose, das Nebeneinander unterschiedlicher Heizkörper, ein Blumenkübel, eine merkwürdig abgewinkelte blaue Putzvorlage vor einer Betonoberfläche. Dies ist kein Programmbild heroisch-fortschrittlicher Erneuerung. Adobe-Dörfer der Pueblo-Indianer oder farbige Holzhäuser an den Küsten Grönlands könnte man auf eine ähnliche Art fotografieren. Der Blick auf die farbig gefassten Wände offenbart den dezidierten Gestaltungswillen und die Praxis späterer Bricolage. Auf diese Weise gewinnen die Aufahmen aus der Wohnmaschine eine dokumentarisch-ethnographische Qualität. Die dokumentierten Details werden zu exemplarischen Repräsentanten der jeweiligen Standorte, fast so als habe ein Forschungseisender des 19ten Jahrhunderts die schweigenden Gesichter unterschiedlicher Indianervölker portraitiert. Auch die Klutes Bilder "schweigen" auf ihre Weise. Sie zeigen alltägliche Raumsituationen, aber ihre Lage im räumlichen Zusammenhang der Wohnscheibe bleibt dem Betrachter verschlossen. Wo Fenster im Bild sind, eröffnen sie keinen Ausblick, der eine Orientierung ermöglicht. Die Bildtitel verraten lediglich, in welcher der fünf realisierten unités Klute fotografiert hat. Klute fotografiert nicht die Privatheit der Appartements, sondern öffentliche Räume der Wohnmaschine. Sie sind anonym und zugleich individuell durch die Spuren ihrer Nutzung.

Eine weitere Spannung der Aufnahmen ergibt sich erst aus dem Gesetz der Serie. Die Aufnahmen der internen Straßen oder der Details laden ein zum typologischen Vergleich. Sie wirken objektiv und distanziert und sind in hohem Maße künstlich. Die Fotografien aus dem Inneren der Le-Corbusier-Bauten entstanden ohne zusätzliche Lichtquellen oder nachträgliche digitale Bearbeitung durch – teils extrem lange – Belichtung fotografischer Filme. Erst der Abzug der Negative offenbarte das Ergebnis nach dem Ende der jeweiligen Fotokampagne. Durch die lange Belichtungszeit werden Farbstimmungen oder Spiegeleffekte besonders ausdrucksstark abgebildet.

Klutes Architekturfotografien unterwandern eine konventionelle Vorstellung modernistischer Ästhetik und sind auf andere Weise eine Schule in der unverstellten Wahrnehmung von Wirklichkeit. Sie bewegen sich im Spannungsfeld von Zeit und Zeitlosigkeit, Perfektion und Authentizität, Objektivität und Inszenierung. Das Wissen, dass es sich bei den fotografierten Objekten um prominente Ikonen der Nachkiegsmoderne handelt, bewirkt im Kopf des Betrachters eine eigentümliche Spannung, wenn er seine hochgestellte Erwartung im Anschauen der Bilder relativiert sieht. Statt eines Programms von Architektur begegnen ihm Atmosphären. 

 

Literatur

Christof Klute/ Martin Hentschel: Orte. MönchenGladbach 2004.

 

UNITÉS D‘HABITATION
Marseille
Rue No.7
2002 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Firminy
Rue No.4
2002 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Berlin
Straße Nr. 1
2002 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Briey en Forêt
Rue No.1
2002 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Rezé-les-Nantes
Rue No.3
2002 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Marseille
Interieur I
2004 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Firminy
Interieur I
2004 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Firminy en Forêt
Interieur I
2004 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Berlin
Interieur I
2004 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Marseille
Interieur II
2004 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Rezé-les-Nantes
Interieur I
2004 © Christof Klute

UNITÉS D‘HABITATION
Marseille
Interieur III
2004 © Christof Klute



[1] Frithjof Müller-Reppen (Hg.): Le Corbusiers Wohneinheit "Typ Berlin". Berlin 11958. Reprint Berlin 2007. S. 13.

[2] Ebd. S. 12.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html abrufbar.

Volltext

erstellt von Karl R. Kegler zuletzt verändert: 19.02.2012 17:30